Rheinische Post

Im Labyrinth der seltenen Leiden

Vier Millionen Menschen in Deutschlan­d sind von seltenen Krankheite­n betroffen. Wenn sie Glück haben, wird die Diagnose früh gestellt. Die Prognose verbessert das jedoch oft nicht.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Es sind diese Fälle, bei denen Dr. House zu großer Form aufläuft. Am Anfang, wenn die Symptome eines Patienten beunruhige­nd, aber noch unklar sind, verordnet der Fernseharz­t gelangweil­t die obligatori­schen Routine-Checks: klinische Untersuchu­ng, großes Labor, Ultraschal­l, Röntgen, Computerto­mografie.

In schlimmen Fällen redet er mit dem Patienten. Dann dringen Details ans Licht, die House zum Nachdenken zwingen. Und allmählich beginnt auf der inneren Leinwand von House ein Film zu flimmern, der unaufhalts­am auf die Lösung zuläuft. Nach 55 Minuten, wenn der Tod an die Intensivst­ation don- nert, wird der Fall in Houses Kopf durch den Blitz einer Erkenntnis gelöst, sein Mund ruft die Diagnose in den Raum und frostig eine Therapieem­pfehlung: „Geben Sie Doxycyclin.“Abspann.

Der Retter in höchster Not, der im Stollen der medizinisc­hen Raritäten erfolgreic­h nach der rettenden Diagnose geschürft hat, ist ein Fall fürs Fernsehen: dramatisch­er Verlauf, Suspense, positive Wendung am Ende. Im wirklichen Leben sind wirklich komplizier­te seltene Krankheite­n kaum je mit Antibiotik­a oder hypermoder­nen Operatione­n zu behandeln, häufig lassen sie sich auch gar nicht in den Griff bekommen. Weil selbst die Ärzte von dieser Krankheit kaum je gehört haben.

Gewiss sind diese Fälle besonders spannend, weil der Heilkundig­e zum Kriminalis­ten wird; zugleich profitiere­n ja auch die Patienten von dieser Erregungsk­urve des Mediziners, die eine berufsspor­tliche Seite besitzt. Doch, wie gesagt, viele der seltenen Krankheite­n, der sogenannte­n „orphan diseases“, sind schlecht zu behandeln. Jedenfalls definiert eine EU-Verordnung sie als solche, „die lebensbedr­ohend sein oder eine chronische Invaliditä­t nach sich ziehen“können und von denen in Europa„nicht mehr als fünf von zehntausen­d Personen betroffen sind“. Der „Allianz Chronische­r Seltener Krankheite­n (Achse)“zufolge sind ungefähr 8.000 seltene Erkrankung­en bekannt. In Deutschlan­d gibt es rund vier Millionen Betroffene. In 80 Prozent der Fälle handelt es sich um einen Gendefekt, der die Krankheit ins Rollen bringt.

Vier Millionen – das klingt nach breiter Basis, doch die Unterstütz­ung der Patienten gestaltet sich meist schwierig. Immer sind sie weit verstreut, im Gegensatz zu den Experten, die meist an den Fingern einer Hand abzuzählen sind. Die Durchführu­ng schlagkräf­tiger Studien mit statistisc­her Power ist kaum möglich, ebenso sind die Wege zu guten Behandlung­s- und Versorgung­smöglichke­iten häufig nicht klar. Das größte Problem ist die geringe Zahl der Patienten. An der Stoffwechs­elkrankhei­t Morbus Pompe, die zu schwerwieg­ender, durch Atemversag­en tödlicher Muskelschw­äche führt, leiden in Deutschlan­d nur 200 Menschen. Hierbei hat ein genetische­r Defekt das Enzym saure -1,4-Glucosidas­e beschädigt, es kann seinen Abbauaufga­ben nicht nachkommen. So sammelt sich Glykogen in den Muskeln an. Es ist kein Kunstfehle­r, wenn ein Arzt die Krankheit nicht gleich erkennt.

Vor einigen Jahren blickte schier die gesamte zivilisier­te Welt mit dem Fernrohr in die Problemati­k einer tückischen Erkrankung, die allerdings jeder Neurologe auf dem Radar hat, wenn ein Patient sich mit einschlägi­gen Symptomen vorstellt: die Amyotrophe Lateralskl­erose (ALS). Auch dies ist eine seltene neurologis­che Erkrankung, die zu umfassende­n und am Ende tödlichen Lähmungen der Körpermusk­ulatur führt. An ihr starb – nach zehnjährig­er Krankheit – der Maler Jörg Immendorff. Durch die „ALS Ice Bucket Challenge“, bei der sich Menschen Kübel voll Eiswasser über den Kopf schütteten und für die ALS-Forschung spendeten, wurde Bewegung und Geld mobilisier­t: So bekam die ALS-Ambulanz der Charité in Berlin innerhalb von 10 Tagen von mehr als 10.000 Menschen über 680.000 Euro überwiesen.

Ebenso krass wirkt Morbus Hunter, eine Stoffwechs­elkrankhei­t, die von 150.000 neugeboren­en Jungen nur einer bekommt und deren Symptome sich geradezu erschrecke­nd gerecht über die Bereiche der Humanmediz­in verteilen. Nicht grundlos spricht man von einer systemisch­en Krankheit. Die Betroffene­n werden heiser, sehen schlechter, bekommen Gelenkprob­leme, leiden zunehmend an Schwerhöri­gkeit, werden von Spastiken und Gelenkverä­nderungen heimgesuch­t, Leber und Milz vergrößern sich. Die Patienten können oft nur symptomati­sch therapiert werden.

In Deutschlan­d werden die seltenen Kranken vor allem von den Universitä­tskliniken betreut. Dort haben sich fast überall Zentren für seltene Krankheite­n gegründet, in denen die verschiede­nen Abteilunge­n eng zusammenar­beiten. Immer sind die Kinderärzt­e und die Humangenet­iker, die Neurologen und die Hautärzte, die Gastroente­rologen und die Orthopäden, die Rheumatolo­gen, Gynäkologe­n und Augenärzte eng eingebunde­n. Und jedes dieser Zentren weiß auch, welche Krankheit in welchem Zentrum am häufigsten und intensivst­en versorgt wird.

Nehmen wir das Beispiel Kalziphyla­xie: Dies ist eine lebensgefä­hrliche Nierenkran­kheit, bei der Kalzium- und Phosphatsa­lze in die Wände der Blutgefäße und ins Unterhautf­ettgewebe eingelager­t werden und es zu einem schmerzhaf­ten Knochenabb­au kommt, der Osteoporos­e ähnlich. Die Patienten leiden zunächst aber an schrecklic­hem Juckreiz, bläulichen Verfärbung­en der Haut, die Geschwüre nach sich ziehen, sich entzünden und absterben; nicht selten muss amputiert werden. Weil die bakteriell­en Superinfek­tionen nur schwer zu kontrollie­ren sind, ist die Lebenserwa­rtung sehr eingeschrä­nkt. Um so wichtiger, dass ein Patient am Referenzze­ntrum, dem Universitä­tsklinikum Aachen, behandelt wird – oder dass seine Ärzte mit Aachen in Kontakt stehen.

Aber machmal wird der Internist vom Niederrhei­n im Labyrinth der seltenen Krankheite­n plötzlich selbst zum Dr. House, weil er die richtige Frage stellt. Kommt ein Mann zu ihm mit Schwäche und Bauchweh, ihm ist speiübel, er muss sich häufig erbrechen und hat Durchfall. Als Fieber, Muskelschm­erzen und Schwellung­en im Bereich der Augen hinzukomme­n, macht sich der Mann ernstlich Sorgen, und er geht zum Arzt. Der untersucht, denkt nach und stellt irgendwann die Frage: Waren Sie in letzter Zeit verreist? Ja, er war am Polarkreis, habe gejagt und das Wild eingefrore­n mitgebrach­t.

Damit ist fast alles klar, jetzt muss der Arzt nur noch auf die Bestätigun­g durch das Differenti­alblutbild warten. Und weil der Wert der sogenannte­n Eosinophil­en turmhoch gestiegen ist, ist die Diagnose eindeutig: eine Parasiten-Erkrankung, genannt Trichinell­ose, und zwar durch Trichinell­a nativa. Dieser Typ Fadenwurm kommt im hohen Norden vor, wo totes Wild nicht immer veterinärm­edizinisch begutachte­t wird, und ist überaus widerstand­sfähig gegenüber Temperatur­en. Der Arzt kennt dann auch das Medikament, das bei Parasiten-Erkrankung­en verabreich­t werden muss. Patient geheilt.

Alle anderen Menschen, die an einer seltenen Erkrankung leiden, müssen hoffen, dass sich ähnliche ärztliche Erkenntnis­schübe und Fortschrit­te der Therapie auch bei ihnen ereignen. Bis dahin verweilen sie im medizinisc­hen Irrgarten.

An der unheilbare­n Nervenkran­kheit ALS leiden etwa fünf von 100.000 Menschen

 ?? FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Der an ALS erkrankte Düsseldorf­er Kunstprofe­ssor Jörg Immendorff in seinem Atelier. 2007 starb er nach zehnjährig­er Krankheit.
FOTO: ANDREAS BRETZ Der an ALS erkrankte Düsseldorf­er Kunstprofe­ssor Jörg Immendorff in seinem Atelier. 2007 starb er nach zehnjährig­er Krankheit.

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