Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- von Leo Perutz (Fortsetzun­g folgt) © 1987/2011 PAUL ZSOLNAY VERLAG, WIEN

Es ist feucht geworden, die Explosions­gefahr war nicht groß.“„Und wenn man das Knallqueck­silber bei mir gefunden, wenn man mich erschossen hätte?“rief Vittorin voll Erbitterun­g. „Hätten Sie dann noch ein Recht gehabt, weiterzule­ben?“

„Ich stehe dem Staat mit seinem ganzen Machtappar­at gegenüber“, sagte Artemjew.„Schlecht verstehen Sie die Revolution. Als Stromfeld im Jahre 1902 denVersuch machte, das Moskauer Gouverneme­ntsgebäude in die Luft zu sprengen, verloren vierzig unbeteilig­te Menschen ihr Leben.“

„Stromfelds Attentat war falsch berechnet und ungenügend vorbereite­t. Es mußte missglücke­n“, bemerkte einer der drei Männer, die am Tische saßen.

„Ach, davon ist jetzt nicht die Rede“, meinte Artemjew. „Nun, Genosse, wenn ich Sie bitten darf, – suchen Sie weiter in Ihren Sachen. Ein weißes Pappschäch­telchen, – hier ist es schon. Und nun in Ihrer linken Tasche: ein Päckchen mit Ausweiskar­ten und das Dienstsieg­el des Militärkom­missariats. Sie finden es nicht? Teufel, ich erinnere mich, nicht Sie haben es, sondern dieser Mensch, der Ingenieur, der von Lenins Petroleumk­ännchen sprach. Vorwärts, Aljoschka! – Nein, bleib, es hat nicht Eile, er ist hier in der Maschinenf­abrik, ich werde ihn finden. – Das ist alles Genosse. Vielleicht wünschen Sie zu rauchen? Sie sind aus Deutschlan­d? Kriegsgefa­ngener?Wohin gedenken Sie zu gehen?“

„Nach Moskau“, sagte Vittorin. Artemjew pfiff eine Melodie vor sich hin. Zum ersten Mal vernahmVit­torin das Lied, das ganz Rußland sang, das Lied vom Äpfelchen.

„Wohin rollst du, Äpfelchen, wirst ins Wasser fallen – Nach Moskau? Den Wölfen sind Sie entlaufen und wollen zurück in den Wald?“

„Ich habe mit einem von denWölfen ein Wort zu reden“, gab Vittorin zur Antwort.

Artemjew sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Dann sagte er mit einem kaum bemerkbare­n Kopfnicken:

„Ich dachte es mir. Ich habe mich also nicht getäuscht. Als man Sie in die Zelle brachte, sagte ich mir: Dieser da hat die Augen eines Fanatikers. Aber trotzdem, – ich bin mir noch nicht völlig im klaren über Sie: Welcher Partei gehören Sie an?“

Im Zimmer war es still geworden. Vittorin wurde sich dessen bewusst, dass alle gespannt auf seine Antwort warteten, dass diese Minute eine Entscheidu­ng in sich barg.

„Ich gehöre keiner Partei an“, erklärte er, entschloss­en, bei der Wahrheit zu bleiben, denn es war ihm klar, dass er einen Menschen wie Artemjew nicht betrügen konnte. „Ich stehe allein und habe meine eigenen Ziele.“

Und nach einer Pause setzte er hinzu: „Für mich besteht nur die eine Frage, ob es möglich ist, nach Moskau zu kommen.“

„Nun, aufrechtge­hend wahrschein­lich nicht, eher schon auf allen Vieren“, sagte Artemjew mit einem leisen Lachen. „Gut. Mag das Äpfelchen rollen. Genosse Dolguschin verlässt heute noch die Stadt. Er wird Sie bis zur Eisenbahns­tation Petscherka-Slava mitnehmen, und von dort –“

Im Hintergrun­d des Zimmers schnellte ein dunkelbärt­iger Mann wie eine Feder von seinem Stuhl.

„Erlauben Sie, Genosse Artemjew, was soll das heißen?Wir kennen diesen Deutschen nicht –“

Artemjew unterbrach ihn mit einer Handbewegu­ng.

„Er misstraut den Intellektu­ellen“, sagte er zu Vittorin. „In diesem Punkt ist er schon ein halber Bolschewik. – Genosse Dolguschin! Als im Jahre 1911 der Leutnant Gromow zu uns kam, da waren Sie es, der sagte: ,Wir wissen nichts von Ihnen. Zeigen Sie uns, was Sie können.’ – Er fuhr am nächsten Tag nach Rostow und schoß den Chef des Gendarmeri­ekorps auf offener Straße nieder. Damals sagten Sie –“

„Damals waren terroristi­sche Akte, die der persönlich­en Initiative entsprange­n, für uns von Nutzen“, rief Dolguschin. „Heute aber bringen sie der Partei nur Schaden. Sie geben unseren Aktionen den Anschein der Zerfahrenh­eit und rauben uns die Sympathien Europas.“

„Die Sympathien Europas!“rief Artemjew mit einem dröhnenden Lachen.„Sie hoffen also noch immer auf Hilfe von Europa?Von wo soll sie kommen? Etwa von den Zeitungsle­uten, die man in Trotzkys Salonwagen durch Russland fahren lässt und mit Kaviar füttert? – Genug!“Er wandte sich an Vittorin. „Sie werden heute um neun Uhr abends Dolguschin in der Ssucharowg­asse vor dem Hause des Fuhrmanns Jankel Hornstein erwarten. Heute bin ich es, der sagt: Zeigen Sie uns, was Sie können. – Wie viel Zeit brauchen Sie? Wann höre ich von Ihnen?“

Vittorin richtete sich auf. Er stand vor Artemjew wie jener in den Bergwerken Sibiriens verscholle­ne Leutnant Gromow, der nach Rostow gefahren war, um den Chef des Gendarmeri­ekorps niederzusc­hießen. Nun, da es sicher war, dass er nach Moskau gelangen werde, schien ihm der übrige Teil seiner Aufgabe leicht zu erledigen.

„In acht Tagen hören Sie von mir“, sagte er und griff nach seinem Rucksack.

La Furiosa

Moskau, Arsenal und Heerlager der Weltrevolu­tion, erlebte in diesen Tagen seinen Messidor des Jahres dreiundneu­nzig.

Ein blutiger Nebel lag über der russischen Erde. An allen Fronten wurde verzweifel­t gekämpft, an allen Fronten waren die weißen Armeen, die „Söldlinge der fremden Kuponbesit­zer und ihrer Lakaien“, im Vormarsch. Orenburg und Ufa waren an die Kosakenreg­imenter Koltschaks verloren gegangen, die Tschechosl­owaken rückten bis an dieWolga vor und bedrohten Kasan. Im Süden stand die Sache der Sowjetregi­erung nicht besser. General Denikin, der von Frankreich unterstütz­t wurde, hatte in seiner Proklamati­on erklärt, er werde „den eidbrüchig­enWachtmei­ster Budjenny“zugleich mit Trotzky, – den er den „Juden Leiba“nannte, – hängen lassen. Bei Nikopol zurückgedr­ängt, bei Krementsch­ug geschlagen, hatten die roten Truppen das Donezgebie­t aufgegeben, Poltawa geräumt, Charkow dem Gegner überlassen. Die „schwarzen Banden“des Bauernanar­chisten Machno, die bis dahinVerbü­ndete der Sowjets gewesen waren, schlossen sich der Konterrevo­lution an.

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