Kronleuchter in der Unterwelt
In der Kölner Kanalisation gibt es ein wahres Konzert-Schmuckkästchen. In einem unterirdischen Saal lauschen Besucher Klassik- oder Jazzmusik – aber ein Sträußchen Minze pro Besucher ist unerlässlich.
KÖLN Wenn die Stadtentwässerungsbetriebe zum Sommerkonzert in die Kölner Kanalisation bitten, bietet sich im Untergrund der Grünanlage am Theodor-HeussRing eine deutschlandweit einzigartige Kombination für Nase und Auge: An der mit Rettungsringen drapierten Staumauer fließt das stinkende Abwasser aus den Haushalten, neben der blubbernden Kloake sitzen 70 Klassik- oder Jazzfans und lauschen kulturellen Klängen. In der Hand halten sie einen Strauß frischer Minze, den sie vor der Nase platzieren – im Kronleuchtersaal riecht es wie auf der Stadiontoilette.
Unauffällig im Hintergrund halten sich Mitarbeiter der Stadtentwässerungsbetriebe (Steb) mit Multiwarngeräten, die Methangas und Schwefelwasserstoff messen –„reineVorsichtsmaßnahme“, sagt Stefan Schmitz, der regelmäßig durch die Kanalisation führt. „Es kann nichts passieren, sollten die Gaswerte aber wider Erwarten steigen, müssten wir die Besucher hinausbitten.“
Da et noch immer jot jejange hätt und weil der edelste Raum der Kölner Kanalisation nur dann mit Menschen gefüllt wird, wenn das Kanalwasser nicht über die Staumauer zu laufen droht – um von dort in einem Kanal von Tunnelgröße in den Rhein zu fließen – gibt es hier an fünf Terminen im Sommer klassische Konzerte. Die Jahr für Jahr nach kurzer Zeit ausverkauft sind.
Der Kronleuchtersaal wurde 1890 für KaiserWilhelm II. gebaut. Das noch heute voll intakte so genannte Re- genentlastungsbauwerk, aus dem das Abwasser bei starken Niederschlägen direkt in den Rhein läuft, ist ein bauliches Meisterwerk: Fünf Meter hoch, aus Ziegeln gemauert, mit einem zwölfarmigen Kronleuchter an der Decke und einer Sandsteintafel im klassizistischen Stil, Stadtwappen von Köln und Insignien Preußens. Ein echter Vorzeigeraum – wenn da nicht der Geruch werde. „Wie stark es riecht, hängt immer von den Niederschlägen ab“, sagt Schmitz, eine Frohnatur, dem man anmerkt, dass Führungen für ihn nicht bloß Routine sind.„An den Geruch gewöhnt man sich aber nach ein paar Minuten. Da kaum jemand weiß, was mit dem Abwasser passiert und der Raum etwas Besonderes ist, hat die Steb sich überlegt: Wir nutzen den Saal, um unsere Arbeit etwas bekannter zu machen.“
2017 gab es in der Kanalisation erstmals auch einen Gottesdienst. „Für das, was hier in dem Kanal neben ihnen vorbeifließt, spielt die Konfession keine Rolle“, sagte Ralf Bröcker von den Steb zur Einleitung der Kampagne „95 Gottesdienste an ungewöhnlichen Orten“der evangelischen Kirche. Statt einer Predigt gab es meditative Betrachtungen zum Abort – frei nach dem Gedicht „Die Scheiße“von Hans-Magnus Enzensberger:
Immerzu höre ich von ihr reden als wäre sie an allem schuld.
Seht nur, wie sanft und bescheiden sie unter uns Platz nimmt! Warum besudeln wir denn ihren guten Namen und leihen ihn dem Präsidenten der USA, den Bullen, dem Krieg und dem Kapitalismus? Hat sie uns nicht erleichtert? Von weicher Beschaffenheit und eigentümlich gewaltlos ist sie von allen Werken des Menschen vermutlich das friedlichste.
Was hat sie uns nur getan?
Die Klassikkonzerte dauern maximal eine Stunde – „vor allem, weil die Instrumente wegen der hohen Luftfeuchtigkeit Schaden nehmen könnten“, sagt Schmitz. Einige Musiker lehnten einen Auftritt ab – aus Angst um ihre Geigen, Celli, Oboen und Trompeten. Sie versäumen, wovon auch viele Besucher schwärmen: eine Akustik, die weit besser ist als auf vielen Kölner Bühnen.
Ratten lauschen den Klängen, die jedes Jahr an fünf Terminen im Sommer erklingen, eher nicht – sie sind scheu und verschwinden spätestens, wenn die Hydraulikplatte zum Kanal an der Kreuzung Clever Straße/Theodor-Heuss-Ring geöffnet wird. Gleichwohl fühlen sich die Nager in der Kanalisation sehr wohl – vor allem, weil zu viele Menschen auch Essensreste ins Klo werfen.
Schmitz führt seit vielen Jahren durch den Kronleuchtersaal. „Ursprünglich sollte Kaiser Wilhelm II. 1890 zur Einweihung kommen, deswegen der Kronleuchter und der Name“, sagt Schmitz. „Der Kaiser ließ sich dann aber entschuldigen und schickte einen Staatssekretär.“Der Name blieb. Der historische Kronleuchter mit sechs Kerzen ist inzwischen durch einen weiß gestrichenen mit elektrischem Licht ersetzt worden.
Stefan Schmitz kann abendfüllend erzählen. Seinen Exkurs beginnt er bei den 80 Metern Kanal aus der Römerzeit, die heute in der kleinen Budengasse ausgestellt sind. Er spricht über das Mittelalter – „unverständlich und bis heute nicht erklärbar, warum die Menschen nicht an den römischen Kanälen festhielten und stattdessen Pfuhle bauten und die nächsten 1500 Jahre in miserablen hygienischen Zuständen lebten“.
Während der Industrialisierung habe ab 1800 der klassische Kanalbau in Köln angefangen, erzählt Schmitz. Heute verfügt die Stadt über 2400 Kilometer Kanalnetz. Bis 1920 die erste Kläranlage ihre Arbeit aufnahm, wurde das Abwasser unbehandelt in den Rhein gen Düsseldorf geleitet. Nach dem ZweitenWeltkrieg gab es die erste biologische Kläranlage. „Inzwischen“, sagt Schmitz und lacht, „machen wir aus Scheiße Geld.“Nicht mit Konzerten. Das Methangas der Schlacke wird in Blockheizkraftwerken in Strom verwandelt.