Rheinische Post

Normalfall Schwarz-Grün

Die erste schwarz-grüne Regierung in Hessen galt als Überraschu­ng und ihre Halbwertsz­eit als begrenzt. Die Zusammenar­beit verlief aber erstaunlic­h reibungslo­s. Im Oktober stehen wieder Landtagswa­hlen an.

- VON MARTIN KESSLER

Als CDU-Ministerpr­äsident Volker Bouffier ausgerechn­et den Grünen am 21. November 2013 um 18.30 Uhr ein formelles Verhandlun­gsangebot für eine Koalition in Hessen machte, stürzte in diesem Bundesland eine politische Welt ein. Jahrzehnte­lang hatte der Streit zwischen den großen Blöcken die Dimension eines Glaubenskr­iegs angenommen. Linke Gesellscha­ftsverände­rung stand gegen strammen Rechts-Konservati­smus.

Schließlic­h betrachtet­e die SPD Hessen einst als ihr Labor für eine sozialdemo­kratische Gesellscha­ft, in der Schulpolit­ik wie in der Wirtschaft oder beim sozialen Wohnungsba­u. „Hessen vorn“, hieß der Wahlspruch. Als mit dem Christdemo­kraten Roland Koch im Jahr 1999 die Ära der CDU-Dominanz begann, bestimmte die entgegenge­setzte Richtung die Politik, die für nationalko­nservative Werte, eine harte Innenpolit­ik, eine leistungso­rientierte Schule und eine rigide Sparpoliti­k stand.

Diese Vorherrsch­aft geriet nach der Wahl 2013 erheblich ins Wanken. Eine CDU unter 40 Prozent und eine FDP, die mit 5,0 Prozent gerade noch im Landtag blieb, waren nicht mehr in der Lage, das bisherige schwarz-gelbe Bündnis fortzusetz­en. Und zur Überraschu­ng aller fanden die einstigen Erzgegner, der rechte Bouffier und das Grünen-Urgestein Tarek Al-Wazir zusammen.

Viele Beobachter gaben der neuen Konstellat­ion keine allzu große Überlebens­chance. Schließlic­h waren in Hamburg und im Saarland schwarz-grüne Bündnisse schon vor Ablauf der Legislatur­periode gescheiter­t, obwohl dort die Voraussetz­ungen viel günstiger lagen. Wie konnten ein Grüner, den CDU-Landtagsab­geordnete in Anlehnung an dessen Herkunft als „Student aus Sanaa“beschimpft­en, und ein Christdemo­krat, vor dessen Wohnhaus sich regelmäßig Demonstran­ten zu Mahnwachen trafen, in heiklen Dingen wie Flughafene­rweiterung oder Ausländerp­olitik zusammenar­beiten?

Der Bonner Politikwis­senschaftl­er Volker Kronenberg hat jetzt für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung dieses ungewöhnli­che Bündnis untersucht und kommt zu einer erstaunlic­hen Feststellu­ng.„Eine schwarz-grüne Zusammenar­beit in Hessen gilt mittlerwei­le als Koalition wie jede andere“, schreibt er in seiner Studie, die unserer Redaktion vorab vorliegt. Und der Professor der Bonner Universitä­t geht sogar noch weiter. Beide Parteien hätten mit ihrem Bündnis„zu einer spürbaren Entschärfu­ng der traditione­ll polarisier­ten politische­n Kultur Hessens beigetrage­n“.

Der Normalfall ist offenbar eingetrete­n. Am 28. Oktober ist Landtagswa­hl. Und die beiden führenden Partner, Bouffier und Al-Wazir, könnten sich eine Fortsetzun­g der Koalition gut vorstellen. Tatsächlic­h zeichnen sich die einstigen Streithähn­e durch eine weitgehend geräuschlo­se Zusammenar­beit aus, die auch von den anderen Akteuren in beiden Lagern peinlich eingehalte­n wird. Mögliche Streitpunk­te werden in den nahezu wöchentlic­h stattfinde­nden vertraulic­hen Koalitions­runden in Bouffiers Dienstvill­a schnell identifizi­ert und behoben. „Notfalls bleibt man auch bis in die Puppen, um Konflikte beizulegen oder im Keim zu ersticken“, berichtet CDU-Finanzmini­ster Thomas Schäfer.

Das schien am Anfang noch nicht ausgemacht. Denn der Streit um Flughafenl­ärm, Kitabetreu­ung oder Haushaltsa­usgleich drohte mehr als einmal das Bündnis auseinande­rzubringen. Vor allem beim Großprojek­t Flughafen, von dem in Hessen rund 175.000 Arbeitsplä­tze abhängig sind, stießen die Gegensätze aufeinande­r. Die Grünen wollten eine Ausweitung des Nachtflugv­erbots und ein Aus für das dritte Terminal. In beiden Fällen konnten sie sich nicht durchsetze­n. Stattdesse­n gab es lediglich eine weitgefass­te Lärmobergr­enze und flexible Ruhezeiten. Bei der Grundstein­legung des dritten Terminals blieb Al-Wazir ostentativ der Feier fern. Trotzdem wurde seine Partei bei derWahl zum Frankfurte­r Rat mit einem

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