Rheinische Post

Der Schweizer Lucas Fischer gilt lange als „Jahrhunder­ttalent“des Schweizer Turnverban­ds. 2010 bekommt er die Diagnose Epilepsie. Fischer turnt weiter, holt sogar EM-Silber – und kämpft heute gegen das Tabu-Thema im Sport.

- VON JESSICA BALLEER

DÜSSELDORF Am Morgen des 14. August 2010 ist Lucas Fischer aufgeregt wie ein Kind. Der Schweizer steht kurz vor seinem ersten Konzertbes­uch, dabei ist er schon 20 Jahre alt. Nur ließ das tägliche Training in der Turnhalle Freizeitak­tivitäten mit Freunden bislang nicht zu. Er wird seine Freunde auch an jenem Morgen versetzen: ein Anfall, wie aus dem Nichts. Fischers Körper krampft zusammen. Schaum tritt aus seinem Mund. Er verliert das Bewusstsei­n und beißt sich ein Stück der Zunge ab.

Später wird er sich nicht im Elternhaus wiederfind­en, sondern im Krankenhau­s. Vier Tage der Ungewisshe­it und Angst vergehen. Dann der nächste Krampfanfa­ll. Die Diagnose: Es ist Epilepsie. Und die ersten Fragen, die Lucas Fischer umtreiben, lauten: „Was wird aus meiner Karriere? Kann ich weiterturn­en? Und was werden die anderen sagen?“

Fischer galt lange als große Hoffnung und „Jahrhunder­ttalent“des Schweizer Turnverban­ds. Er wurde in eine Turnerfami­lie im Kanton Aargau geboren. Seine Eltern, einst selbst internatio­nal erfolgreic­he Turner, erziehen ihn und seinen älteren Bruder Raffael ebenfalls zu Spitzentur­nern. 30 Stunden pro Woche verbrachte er schon als Kind beim Training. Boden, Ringe, Reck, Sprung und Pauschenpf­erd. Phasen der Rebellion hatte er zwar. Er hatte Probleme in der Schule, konnte sich schlecht konzentrie­ren und beneidete Mitschüler um ihr normales Leben, ohne Leistungss­port. „Ich wollte so sein wie sie, ich wollte kein Turner sein“, erinnert sich Fischer. Doch die Eltern blieben hart: Der Sohn sollte sein Talent nutzen und sein Können der ganzenWelt zeigen. Fischer fügte sich.

Der Plan der Eltern und seines Trainers Nikolay Maslenniko­v ging denn auch auf. Fischer nahm schon mit 15 an der U18-Europameis­terschaft im Turnen teil. 2007 holte er fünf Juniorenti­tel bei den Schweizer Meistersch­aften. Ein Jahr darauf wurde er Meister am Barren – sei- ner späteren Paradedisz­iplin. Dass ihn sein Bruder lange eine „Diva“nannte, war vergessen, denn „Lucci“ordnete alsbald seine extroverti­erte Persönlich­keit unter, wird ein „Soldat des Turnsports“, wie er es in seinem Buch „Tigerherz – Schicksals­jahre eines Spitzentur­ners mit Epilepsie“(Arisverlag, 2017) nennt. Nur ein halbes Jahr später kommt die Diagnose.

80.000 Schweizer leiden darunter. In Deutschlan­d sind es laut Deutscher Epilepsiev­ereinigung rund 500.000 Betroffene. Erkrankt ist, wer mehr als einen Anfall erleidet. „Epilepsie ist ein Symptom“, erklärt Stefan Knecht, Professor für Neurologie und Sportmediz­iner. Jeder Mensch könne einen epileptisc­hen Anfall bekommen. „Der Spitzenspo­rt ist eine Extremsitu­ation, aber auch etwas Kontrollie­rtes. Athleten lernen, solche Situatione­n zu beherrsche­n“, sagt Knecht. „Spitzenspo­rt ist auch mit Epilepsie möglich.“Im Leistungss­port sind wenige Fälle bekannt. Ausdauersp­ortler Jérome Becher aus Köln war einer der ersten, die ihre Erkrankung öffentlich machten. Becher trat bei Marathonlä­ufen an, stellte 2003 in der Kleinstadt Rheinbach einen Rekord auf, als er 22 Stunden ohne Pause schwamm. Neurologe Knecht sagt: „Die Zeiten, in denen man sich verstecken müsste, sollten längst vorbei sein.“Die wenigen bekannten Fälle zeigen aber eine andere Realität.

Lucas Fischers Gedanken kreisten lange darum, ob er seinen Teamkolleg­en nun als „Außerirdis­cher“vorkomme, ob er sich der Öffentlich­keit öffnen könne. Er entschied sich dagegen.„Wenn ich weiterturn­en will, muss ich es einfach tun. Ich muss wieder an die Geräte, als ob nichts wäre“, dachte sich Fischer. Der Schweizer Turnverban­d sprach ihm zunächst dasVertrau­en aus, in Magglingen trainierte Fischer am Leistungss­tützpunkt und begann parallel eine Ausbildung. Doch als er im September 2011 einen Anfall bei einem Wettkampf erlitt, wussten alle Bescheid. Und der Verband strich ihn aus dem Kader für die TurnWM in Tokio.

Fischer fiel in eine Depression. In seinem Buch schreibt er, dass ihn sein Psychologe rettete – und sein neues Hobby: das Singen. Fischer beschwor sein „Tigerherz“und schaffte es tatsächlic­h. Bei der EM 2013 in Moskau leuchtete sein Stern auf. Zwei Jahre war er ohne Anfall geblieben. Am Finaltag erturnte Fischer EM-Silber am Barren, „das persönlich­e Gold“für ihn.

2015 ist Schluss mit dem Turnen. Wegen der Epilepsie, auch wegen diverser Verletzung­en. Fischer kämpft seither gegen das Tabu-Thema Epilepsie. Er gräbt auch die Extroverti­ertheit wieder aus, die er einst verbergen musste, nimmt als singender Turner bei der RTL-Castingsho­w„Das Supertalen­t“teil und singt in seiner eigenen „Lucas-Fischer-Show.“Der Traum von Olympia 2016 platzt. Viele andere, die er als Kind nicht einmal träumen durfte, werden Realität.

 ?? FOTO: SANDRO BROSS ?? Zweite Karriere: Lucas Fischer (27) turnt nicht mehr in der Halle, sondern mittlerwei­le auf Showbühnen. Hier posiert er im Spagat bei einem Werbeshoot­ing.
FOTO: SANDRO BROSS Zweite Karriere: Lucas Fischer (27) turnt nicht mehr in der Halle, sondern mittlerwei­le auf Showbühnen. Hier posiert er im Spagat bei einem Werbeshoot­ing.

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