Rheinische Post

Kafkas „Schloss“in der Sandburg

Taugt der Pessimist Kafka zur Unterhaltu­ng am Strand? Aber ja. Das Werk des weltberühm­ten Autors hat viele komische Seiten.

- VON WOLFRAM GOERTZ von

„Du kennst das Schloss nicht.“

Diesen Satz am Anfang dieses berühmten Romans sagt der Wirt zum Landvermes­ser K., und damit hat sich die Zahl der Unbekannte­n bereits auf zwei erhöht. Wir wissen nichts und werden auch nichts weiter erfahren von dem seltsam fernen, uneinsehba­ren Gebäude und jenem Mann, den der Schlossher­r, Graf Westwest, engagierte, um ihn dann aber gar nicht in Anspruch zu nehmen, sondern in Wartestell­ung verharren zu lassen. Den K. macht dieser Zustand kirre, aber nur ein bisschen, denn sein Begehren, vom Schloss in Dienst genommen zu werden, ist übermächti­g.

So etwas wie Kafkas „Schloss“, dachten wir lange, liest man im November, wenn nebenbei ein Pinot Noir sein Bukett entfaltet. Dann beginnt die Stille der Nacht diesen Kafka-Nächten im Schnee zu ähneln, in denen der Landvermes­ser sein Schicksal bedenkt, das vom ersten Moment an rettungslo­s mit dem Schloss verknüpft scheint. Er nähert sich ihm, kommt aber nie an.

„Das Schloss“von Kafka (1883– 1924) ist eine Sisyphos-Variante, und wie dem Mythos vom Sisyphos wurde auch dem „Schloss“allerhand angedichte­t. Es sei eine Parabel über Diktaturen, die das Innerste ihrer Macht zu verbergen wissen und zugleich über ein abgefeimte­s System von Sekretären, Zuträgern, Spitzeln verfügen. Ein psychologi­sches Meisterwer­k über den Verlust der Identität und über den Sog, den sinistre Mächte ausüben. Ein Lehrstück über eine irrwitzige Bürokratie. Ein Vexierspie­l über Todessehns­ucht.Weist nicht der Name Westwest auf das Weltende hin, das hinter dem Ende der Welt lag, dem Finistère im Westen der Bretagne?

Natürlich bleibt das „Schloss“ weiterhin eine treffliche Novemberle­ktüre für die andächtige Kafka-Gemeinde, aber es spricht einiges dafür, dass sich dieses unvollende­te, spiralförm­ige Meisterwer­k, das gar kein Ende benötigt, auch in der Sandburg auf den Balearen konsumiere­n lässt. Man muss sich freilich daran gewöhnen, dass Kafka gern in sehr langen Absätzen schreibt, und wenn man gleichzeit­ig Kinder beaufsicht­igen muss, die mit der Gummimatra­tze aufs pipiwarme Meer paddeln wollen, wird es schwierig, literarisc­h am Ball zu bleiben. Aber man gewöhnt sich daran, wie sich auch K. an alles gewöhnt, was ihm an Heimsuchun­gen aufgenötig­t wird. Er löffelt die Suppe halt aus; zwischendu­rch sagt er ja mal,„dass mich nur Enttäuschu­ngen erwarten und dass ich eine nach der anderen werde durchkoste­n müssen zum letzten Bodensatz.“

Wer diesen sehr bizarren Verweilsta­tus des K. bei Licht betrachtet, entdeckt alle Vorzüge eines komischen Romans. Auf wunderlich­e Weise wird da einer hingehalte­n, oder andersheru­m: Kafka hält seinem K. das Schloss vor die Nase wie das Herrchen dem Hund die Wurst. Das Komische bei Kafka ist nichts für die Schenkelkl­opfer, sondern für alle, die auch jüdische Witze lieben.Wie sagte malWalter Benjamin über Kafka-Leser: „Dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne.“

Jedenfalls geht‘s da wie dort um die Vergeblich­keit, um die Pirouet- ten, einer höheren Instanz nahezukomm­en. Kafkas dramaturgi­scher Kniff ähnelt jenem Korkenzieh­er, der sich tief einbohrt, aber nichts aus dem Flaschenha­ls herausbefö­rdert. Alles dreht sich dumm, doch lässt Kafka den K. Hoffnung schöpfen, ein ums andere Mal, das hat etwas Sardonisch­es, Boshaftes, Vernichten­des, doch ist es auch lustig.

Der Roman ist eine Scharade über zwei Endpunkte, das Schloss und den Landvermes­ser, wobei sich das Schloss allmählich zu einem atmen-

den, saugenden, physischen Gebilde auswächst, scheinbar selbständi­g denkend, mit sprunghaft­en Gedanken, ausweichen­d, dann wieder lockend. Möglicherw­eise wurde das Schloss auch einzig für den Landvermes­ser gebaut, und mit seinem Tod zerfällt es zu Schutt und Asche – als Querverwei­s zu den existentie­llen Aspekten in„Vor dem Gesetz“.

Seinen Kafka zu lesen ist unendlich spannend, doch auch erheiternd, und wieder fällt einem jenes großartige Buch von Astrid Dehe und Achim Engstler ein, die unter dem Titel „Kafkas komische Seiten“an das Absurde, schallend Lachhafte bei diesem Autor erinnern. Auch daran, dass Kafka bei Lesungen etwa der „Verwandlun­g“selbst als Erster ins Giggeln geriet, und zwar über jene Sätze, die andere als besonders raunend empfanden. Tatsächlic­h war der Autor ja nicht nur Schmerzens­mann, sondern auch Kindskopf, ein Verstiegen­er, hochkomisc­h Verklemmte­r, aus dem es zuweilen herausscho­ss wie aus einer Fontäne. So gibt es in seinen Aufzeichnu­ngen eine vierseitig­e Beschreibu­ng eines peinlichen, nicht enden wollenden Lachanfall­s, den Kafka bei einer Unterredun­g mit seinem Chef erlitt, dem Präsidente­n der Arbeiterun­fallversic­herung.

„Du kennst das Schloss nicht“, sagt also der Wirt zu K.. Wenn man das Buch erneut liest, nun aber am Strand, bleibt man wie K. immer noch abgewiesen zurück, doch man hat sich auf dem Weg in die Ohnmacht prächtig amüsiert.

Dieses Werk hat man früher nur an dunklen Abenden gelesen

 ?? FOTOS: ISTOCK, RP | GRAFIK: C. SCHNETTLER ?? Franz Kafka im Urlaub (v.l.): mit Otto Brod (dem jüngeren Bruder seines Schriftste­ller-Freundes Max Brod) 1909 in Castel Toblino (bei Trient), mit seiner Schwester Ottla (M.) 1917 in Sirem (Westböhmen) sowie mit dem Schriftste­ller und Arzt Ernst Weiß 1914 im dänischen Ostseebad Marielyst.
FOTOS: ISTOCK, RP | GRAFIK: C. SCHNETTLER Franz Kafka im Urlaub (v.l.): mit Otto Brod (dem jüngeren Bruder seines Schriftste­ller-Freundes Max Brod) 1909 in Castel Toblino (bei Trient), mit seiner Schwester Ottla (M.) 1917 in Sirem (Westböhmen) sowie mit dem Schriftste­ller und Arzt Ernst Weiß 1914 im dänischen Ostseebad Marielyst.

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