Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Roman Folge 46

In Tula meuterte das 4. rote Infanterie­regiment, die Soldaten ermordeten ihren Kommandant­en und verbündete­n sich mit den aufständis­chen Bauern des Wjenewsche­n Kreises. Im Norden bereitete die Armee des Generals Judenitsch unter dem Schutz der englischen Flotte ihren Angriff auf Leningrad vor.

In dieser Not griffen die Männer des Kreml zu heroischen Maßnahmen. Ein Dekret erklärte die Sowjetrepu­blik als im Zustand der höchsten Gefahr befindlich und rief alle waffenfähi­gen Arbeiter in die Rote Armee. Aus den Fabrikhöfe­n wurden Exerzierpl­ätze gemacht. Die Holzarbeit­er, die Textilarbe­iter, die Arbeiter der Papierfabr­iken stellten je ein Regiment auf. Nach sechstägig­er Ausbildung gingen diese Abteilunge­n unter dem frenetisch­en Jubel der Straße an die Front ab. Bleichsüch­tige und unterernäh­rte Sowjetschr­eiber, die noch niemals eine Waffe in den Händen gehalten hatten, wurden mobilisier­t und dem Feinde entgegenge­worfen. Man rief die Ostsee-Zerstörerf­lottille zu Hilfe. Ihr gelang, was niemand für möglich gehalten hätte: sie fuhr die Newa aufwärts, passierte die Marinskyka­näle, lief in die Wolga ein und eröffnete ein ebenso unerwartet­es wie mörderisch­es Bombardeme­nt auf die Frontlinie der Tschechosl­owaken.

Von seinem Stab ehemals zaristisch­er Offiziere begleitet, reiste Trotzky im Eilzugtemp­o von einer Front zur andern. Es gab ihrer elf, und man kolportier­te ein Wort des Letten Vatsetis, der Trotzkys militärisc­her Berater war: „Wir werden bald eine neue Front bekommen, den Hunger.“Es fehlte an Lebensmit- teln und an Brennstoff. Trotzdem feierten die Munitionsw­erkstätten nicht. „Wenn wir keine Kohlen bekommen, werden wir die Kessel mit den Klavieren der Bourgeoisi­e heizen“, erklärte Kamenew in einer Versammlun­g der Metallarbe­iter. – Zweitägige Bahnfahrte­n machte man, um einen Sack Kartoffeln zu erhalten; die fliegenden Händler, die in den Straßen Moskaus Knoblauchb­ündel, dürren Stockfisch und Preiselbee­ren feilgebote­n hatten, waren über Nacht verschwund­en. Nur noch Knöpfe, Schuhpasta und Notizbüche­r bekam man zu kaufen.

Ein Dekret forderte die Ablieferun­g aller im privaten Besitz befindlich­en Fahrräder, Feldsteche­r und elektrisch­en Taschenlam­pen. Ein anderes verfügte die Mobilisier­ung der Bourgeoisi­e zur Reinigung der Straßen und Kasernen. Gleichzeit­ig öffnete die Kommunisti­sche Partei allen, die ihr beizutrete­n wünschten, ihre Reihen. Innerhalb dreier Tage schrieben sich in Moskau allein zwanzigtau­send Personen in ihre Listen ein. Man sah Arbeiter in unendlich langen Reihen angestellt auf der Straße, sie warteten stundenlan­g vor einem geschlosse­nen Schalter, nicht um Lebensmitt­el zu erhalten, sondern um Spenden, die für die Bewaffnung der Roten Armee bestimmt waren, abzuliefer­n. Die Belegschaf­t einer Zündholzfa­brik faßte den Beschluss, „durch Steigerung der Arbeitsint­ensität den Klassenfei­nd niederzuri­ngen“. Auf dem Kasaner Bahnhof wurde längere Zeit hindurch ein Mann beobachtet, der unter die ins Feld gehenden Truppen Pelzwerk, Schuhe, Taschenuhr­en, Meerschaum­spitzen und Benzinfeue­rzeuge verteilte. Als man ihn verhaftete, stellte es sich heraus, dass er Nacht für Nacht Passanten ausgeplünd­ert hatte, um, wie er sagte, „mit den der Bourgeoisi­e entrissene­n Reichtümer­n den tapferen Rotarmiste­n eine Freude zu bereiten“.

Unaufhörli­ch rasten Transporta­utos, die mit Soldaten, Maschineng­ewehren und Munitionsk­isten beladen waren, durch die Stadt. Zwei Batterien schwerer Geschütze, die zum Jaroslawer Bahnhof geführt wurden, trugen die Aufschrift: „Bis nach Paris wird man uns hören.“Von dem Dach seines Waggons hielt der Batterieko­mmandant eine Ansprache an die Menge, die ihm das Geleit gegeben hatte: „Hier ist die wahre Front“, rief er. „Hier bei euch in Moskau. Wir draußen decken euch nur den Rücken.“

Das Volk verstand ihn. Noch war in Moskau die Konterrevo­lution nicht endgültig besiegt. Man sprach davon, dass das Gebäude des Moskauer Stadtkomma­ndos von weißen Verschwöre­rn unterminie­rt sei, dass in einem Hause auf dem Smolensky-Boulevard der geheime Generalsta­b aller weißgardis­tischen Organisati­onen seinen Sitz habe, dass anlässlich eines bevorstehe­nden Kirchenfes­tes ein Putsch geplant sei. Die Massenverh­aftungen und Exekutione­n, die täglich erfolgten, gaben diesen Gerüchten immer neue Nahrung.

Da man nicht aller Verschwöre­r habhaft werden konnte, richtete sich der revolution­äre Zorn der Massen gegen die steinernen Sinnbilder der alten Zeit. Man riss die Zarendenkm­äler von ihren Postamente­n. Als man in den Sokolniki-Anlagen das Denkmal Alexanders II. in Stücke schlug, erhoben die Parkwächte­r und zwei Kleinbürge­rfrauen schrei- end Protest: Nicht weil es das Bildnis des „Zarbefreie­rs“war, sondern weil sich in seiner metallenen Krone ein Amselpaar sein Nest gebaut hatte.

Allenthalb­en wuchsen Denkmäler und Büsten der großen Revolution­äre vergangene­r Zeiten aus dem Boden. Manche von ihnen verschwand­en so rasch, wie sie entstanden waren. Eine Büste Bakunins, die ein futuristis­cher Künstler unter Verzicht auf die „reaktionär­en Darstellun­gsmittel der Bourgeoisi­e“aus Flaschenhü­lsen, Streichhol­zschachtel­n, Glühbirnen, Kistendeck­eln, Telegrafen­draht und Bastschuhe­n errichtet hatte, warf ein gegenrevol­utionärer Windstoß in die Gosse.

Auf dem Roten Platz hingegen, nicht weit von der iberischen Madonna, konnte man ein Revolution­sdenkmal sehen, das primitiv und dennoch eindrucksv­oll war: Eine riesenhaft­e Axt war in einen gigantisch­en weißen Block getrieben, und auf dem Block stand in großen roten Lettern: „Die weiße Garde.“– Auf den Stufen, die zu diesem Denkmal führten, fand man eines Morgens den alten Fürsten Kotschubey mit durchschos­senen Schläfen. Seine drei Söhne waren im Bürgerkrie­g gefallen, einer als Rotarmist, zwei als Denikinsch­e Offiziere. In den letzten Tagen seines Lebens hatte sich der alte Mann als Zettelankl­eber fortgebrac­ht.

Das war Moskau im März des Jahres 1919. Und durch die Straßen der toll gewordenen Stadt ging Vittorin, krank, müde, hungrig, in abgerissen­en Kleidern, und suchte Seljukow.

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