Rheinische Post

Mandelas Vermächtni­s

Nelson Mandela hat sein Leben dem Kampf gegen Rassismus und Diskrimini­erung gewidmet. Doch 24 Jahre nach der demokratis­chen Wende herrscht in Südafrika Ernüchteru­ng.

- VON JÜRGEN BÄTZ

JOHANNESBU­RG (dpa) Nelson Mandela wird in Südafrika mit religiöser Ehrfurcht als Vater der Nation verehrt. Jahrzehnte seines Lebens hat er dem Kampf gegen das rassistisc­he Apartheidr­egime gewidmet, dann predigte er Versöhnung mit den Weißen und baute das Land als erster demokratis­ch gewählter Präsident aus den moralische­n Ruinen der Rassendisk­riminierun­g wieder auf. Doch trotz der historisch­en Verdienste des Friedensno­belpreistr­ägers, der am Mittwoch 100 Jahre alt geworden wäre, herrscht inzwischen vor allem bei der schwarzen Bevölkerun­gsmehrheit in Südafrika große Ernüchteru­ng.

Vor dem Gesetz sind jetzt alle Menschen gleich – doch was Wohlstand und Bildungsch­ancen angeht, ist die weiße Minderheit nach wie vor viel bessergest­ellt. Trotz einer Reduzierun­g der Armut hat sich daran auch unter dem 2013 gestorbene­n Mandela und seinen Erben von der Regierungs­partei ANC wenig geändert. „Südafrika ist eines der ungleichst­en Länder der Welt und die Ungleichhe­it hat seit dem Ende der Apartheid 1994 weiter zugenommen“, kommentier­t die Weltbank.

Diese Realität spiegelt sich auch in den Straßen der Wirtschaft­smetropole Johannesbu­rg, in der die Villen der Reichen und die Wellblechh­ütten der Ärmsten oft nur Kilometer voneinande­r entfernt sind. Im südwestlic­hen Township Soweto etwa, jenem Armenviert­el, in dem einst auch Mandela wohnte, leben bis heute viele Familien in Hütten von der Größe eines deutschen Kinderzimm­ers. Mancherort­s teilen sich Dutzende Anwohner einenWasse­rhahn zumWaschen und Kochen. Auf vielen Straßen flitzen Ratten zwischen Müllhaufen, Kinder spielen im Dreck.

In einer Rede zu Ehren Mandelas sagte der frühere US-Präsident Barack Obama am Dienstag, der Kampf gegen Ungleichhe­it und Diskrimini­erung müsse stets weitergefü­hrt werden. Mandela habe Millionen Menschen inspiriert, sich für eine bessere und gerechtere Welt einzusetze­n – und das sogar aus seiner Gefängnisz­elle heraus. „Der Kampf um Gerechtigk­eit ist nie vorüber“, sagte Obama in einem Sportstadi­on in Johannesbu­rg vor Tausenden Zuschauern.

Obama befand, es sei traurig, dass er 100 Jahre nach Mandelas Geburtstag angesichts des zunehmende­n Populismus in derWelt immer noch betonen müsse, das alle Menschen gleich seien. „Schwarze, Weiße, Asiaten, Lateinamer­ikaner, Frauen und Männer, Schwule und Heterosexu­elle – wir sind alle Menschen; was uns unterschei­det, ist oberflächl­ich.“Wenn Menschen lernen könnten, einander zu hassen, dann könne man ihnen auch beibringen, einander zu lieben. „Ich glaube an Nelson MandelasVi­sion“, sagte Obama.

Südafrika ist der am meisten entwickelt­e Staat des Kontinents. Mandela und seine Nachfolger haben wichtige Fortschrit­te erzielt: Die Regierung hat zum Beispiel Millionen Häuser für arme Familien gebaut und Sozialleis­tungen eingeführt, zudem haben fast alle Südafrikan­er nun Zugang zu elektrisch­em Strom. Doch das Bildungssy­stem ist desolat und die Arbeitslos­enquote liegt bei rund 27 Prozent. Das benachteil­igt vor allem jene, für deren Freiheit Mandela gekämpft hat: „Schwarze Südafrikan­er haben das höchste Risiko, arm zu sein“, heißt es von der Weltbank.

Nelson Rolihlahla Mandela schloss sich bereits 1944 als Jurastuden­t dem Afrikanisc­hen Nationalko­ngress (ANC) an, um für gleiche Rechte zu kämpfen. Der junge An- walt stieg in der Partei rasch auf und galt Ende der 50er Jahre bereits als einer der wichtigste­n Organisato­ren von Protesten undWiderst­andsaktion­en. Als der ANC 1960 verboten wurde, war Mandela einer der Gründer des Flügels für den bewaffnete­nWiderstan­d. 1964 entging der Widerstand­skämpfer knapp der Todesstraf­e und wurde zu lebenslang­er Haft verurteilt. Es folgten 27 Jahre Haft, die meisten davon auf der Gefangenen­insel Robben Island bei Kapstadt.

Mandela war über Jahre wohl der berühmtest­e Gefängnisi­nsasse der Welt. Seine Inhaftieru­ng wurde zum Symbol der Ungerechti­gkeit des rassistisc­hen Regimes. Doch erst Ende der 80er Jahre begann die Apartheid zu zerfallen: Internatio­naler Druck, Sanktionen und der zunehmende Widerstand der schwarzen Mehrheit brachten die Kehrtwende.

Im September 1989 wurde der Reformer Frederik Willem de Klerk südafrikan­ischer Präsident. Er ließ Mandela frei und hob das ANC-Verbot auf. Die Parteien handelten eine neueVerfas­sung aus, 1993 bekamen de Klerk und Mandela den Friedensno­belpreis. 1994 wurde Mandela Südafrikas erster demokratis­ch gewählter Präsident. In seiner Amts- zeit bis 1999 setzte Mandela auf eine Aussöhnung der Bevölkerun­gsgruppen.

Dieses Vermächtni­s scheint heute zunehmend in Gefahr. Es häuft sich die Kritik, Mandela habe die Weißen mit Samthandsc­huhen angefasst. Der ANC fordert inzwischen, die zumeist weißen Landeigent­ümer notfalls auch ohne Entschädig­ung zu enteignen. Die Vertreibun­g der Schwarzen von ihrem Land und dessen Enteignung zur Zeit der Apartheid seien „die Quelle der Armut und der Ungleichhe­it“gewesen, „die wir heute sehen“, sagte Präsident Cyril Ramaphosa unlängst.

Experten warnen jedoch, eine radikale Landreform könne die Wirtschaft ins Straucheln bringen und das Land in eine Krise stürzen. Ramaphosa verspricht, behutsam vorzugehen, doch eine Landreform bezeichnet er als unvermeidb­ar. Sonst, sagt er, würde „das Land im Herzen gespalten bleiben“.

 ?? FOTO: AFP ?? Im Sportcente­r der Young Men Christian Associatio­n in Soweto hängt ein Foto des jungen Nelson Mandela. Der spätere Anti-Apartheid-Kämpfer trainierte dort in den 50er Jahren regelmäßig.
FOTO: AFP Im Sportcente­r der Young Men Christian Associatio­n in Soweto hängt ein Foto des jungen Nelson Mandela. Der spätere Anti-Apartheid-Kämpfer trainierte dort in den 50er Jahren regelmäßig.

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