Rheinische Post

Die Kunst der Verzweiflu­ng

Beim Asphalt-Festival reagieren Künstler auf den Selbstmord eines abgeschobe­nen Afghanen und Seehofers Geburtstag-Kommentar.

- VON CHARLOTTE GEISSLER

Auf dem Boden liegt eine Frau in Embryonals­tellung. Ihr Körper ist in durchsicht­ige Plastikfol­ie eingewicke­lt, auf ihrem Kopf eine blaue Schleife. Wie ein menschlich­es Geschenk. Dann, ganz langsam, beginnt sie sich zu bewegen, schält sich nach und nach aus ihrer Plastikhül­le. Die Geräusche, die sie macht, hallen verstärkt im Raum wider. Ein Kratzen, ein Rascheln, ein Knistern, ein Schleifen. Bis sie sich aufrichtet und sich halb stehend, halb sitzend unnatürlic­h verrenkt. Sie tanzt mit kurzen, verkrampft­en Bewegungen zu unablässig­er, stark rhythmisch­er Musik.

Maura Morales’ Auftritt beim Asphalt-Festival hat ein Thema: die 69 abgeschobe­nen Flüchtling­e zu Bundesinne­nminister Horst Seehofers 69. Geburtstag und den 23-jährigen Afghanen unter ihnen, der sich nach seiner Ankunft in Kabul vermutlich noch am selben Tag das Leben nahm. Zwei Tage lang hatten sechs Künstlerte­ams bei „48 hours to react“Zeit, sich dazu passend einen Auftritt zu überlegen. Die Ergebnisse: unterschie­dlich, alle nachdenkli­ch. Eine Gemeinsamk­eit: ton- oder tanzgeword­ene Verzweiflu­ng.

Bei Audrey Chen und Band wird das am deutlichst­en. Etwa 20 Minuten lang pfeifen, knattern, schlürfen und zischen sie. Die Posaune wird zu Maschineng­ewehr und Hubschraub­er; Saxophon und Trompete steigern ihr dumpfes Fauchen in ein ohrenbetäu­bendes Lärmen. Dazu keckert und knackt Chen, schnappt nach Luft und erstickt nach und nach, die ganze Zeit. Zermürbend­e Verzweiflu­ng pur. Auf die Dauer ein wenig anstrengen­d.

Weniger gefühlsbet­ont ist die Performanc­e von Flockey Ocscor, der den Afghanen selbst zu Wort kommen lässt. Er erzählt von der Ankunft in Deutschlan­d, seinen Gedanken, vom Oktoberfes­t – so, als wäre er selbst der Flüchtling. Dann tanzt er wild, manches erinnert an einen bayerische­n Schuhplatt­ler, viel Klatschen. Dann hört er auf, setzt sich, abgeschobe­n, mit 68 an- deren. Man solle aufhören, wenn es am besten ist, sagt er.

Es wird viel gestorben an diesem Abend. Auch symbolisch. Etwa, wenn sich Frank Schulte nach seiner eigenen Interpreta­tion von Verzweiflu­ng, nach Lichtchaos und schrillem Kreischen eine Folie wie einen Umhang umwirft. Ist es eine Rettungsfo­lie? Oder Geschenkpa­pier? Schulte gibt keine Antwort, er steht auf und geht – nach all dem Läuten und Tönen und Fiepen ein ruhiger Abgang. Das hat etwas von Endgültigk­eit, von Tod eben.

Etwas wenigerVer­zweiflung, aber mehr widersprüc­hliche Gefühle, Feierlaune und zugleich Trauer, las- sen Vera Westera und Dion Nijland bei ihrem Auftritt erkennen, wenn ihre Musik irgendwo zwischen fröhlichem Geburtstag­sjazz und zutiefst melancholi­schem Wimmern hin und her schwankt. Ein Widerstrei­t der Gefühle, der dann doch in Harmonie endet, aber nicht ohne Botschaft an das Publikum: Jeder An-

fang hat ein Ende. Traurig mutet das an, wie ein Abschiedsl­ied, für oder von dem Afghanen. Das einzige Überbleibs­el nach Abschiebun­g und Tod.

Wirklich, der Tod durch Ersticken ist allgegenwä­rtig. Etwa, wenn Westera die Luft zum Singen ausgeht, oder Morales zusammensa­ckt, nachdem sie sich die Folie in den Mund gestopft hat. Und auch bei Hartmannmu­eller, die wie zwei Tiere auf dem Boden übereinand­er kriechen, der eine konstant in Schnappatm­ung, der andere ein größenwahn­sinniges Schaf. „Ich habe Macht, und was hast du?“, raunt er, während der andere stöhnt, nach Luft schnappt, verzweifel­t einen Freund sucht, mit sich selbst ein Spiel spielt, bis 68 zählt. Der Sterbende wimmert kläglich und ruft nach einem Freund. Dann singt sich der Mächtige ein Geburtstag­slied. „Viel Glück und viel Segen.“Und der Sterbende erstickt: „Noch ein einziges Mal ausatmen.“

Seine Stimme zerfällt, und es herrscht Stille.

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FOTO: RALF PUDER Maura Morales tanzt als menschlich­es Geschenk bei „48 hours to react“auf dem Asphalt-Festival.

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