Rheinische Post

Auf den Frieden nicht vorbereite­t

Die Türkei trifft in Nordsyrien auf größere Probleme als erwartet. Die Truppen werden nicht so schnell abziehen können wie erhofft.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Schwerbewa­ffnete Jugendlich­e mit sonnenverb­rannten Gesichtern und den roten Armbinden der syrischen Sultan-Murat-Miliz bemannen Kontrollpu­nkte auf dem Weg nach Afrin, auf den Straßen kreuzen türkische Panzerwage­n; in der Ferne steigt Rauch auf. Im Stadtzentr­um haben die Läden geöffnet, doch die einkaufend­en Frauen bahnen sich ihren Weg zwischen bewaffnete­n Männern hindurch, die für Ruhe und Sicherheit sorgen sollen. Noch sind es kampferfah­rene Mitglieder türkischer Spezialein­heiten, die in Afrin wachen, doch bald sollen Jungen wie Hossein das übernehmen – ein 22-jähriger Syrer, der von den türkischen Besatzern gerade im Schnellkur­s zum Polizisten ausgebilde­t wird.

Schon in einer Woche wolle Ankara damit beginnen, die Verwaltung und Verteidigu­ng von Afrin an die Einheimisc­hen zu übertragen und die türkischen Kräfte aus der Stadt zurückzuzi­ehen, verkünden türkische Regierungs­sprecher. Hossein schüttelt den Kopf, als er davon hört. „Unmöglich“, sagt der junge Syrer. „Wir schaffen das nicht.“

Da dürfte er recht haben. Die umliegende­n Dörfer sind von Betonbunke­rn mit Schießscha­rten verschande­lt, in der Stadt zeugen Einschussl­öcher in Fabrik- und Wohngebäud­en von den Kämpfen der vergangene­n Monate. Die Gegend um Afrin war nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrie­ges vor sieben Jahren zunächst von der Gewalt verschont geblieben. Syrische Regierungs­truppen zogen sich aus der Stadt mit ihren mehr als 30.000 Einwohnern zurück, in der die syrische Miliz YPG das Ruder übernahm. Die YPG, syrischer Ableger der kurdischen Terrororga­nisation PKK, begann in Afrin und anderen Teilen Nord-Syriens mit dem Aufbau einer Selbstverw­altung, die von der Türkei als Bedrohung betrachtet wird.

Die Herrschaft der Kurden endete im März dieses Jahres: Türkische Truppen, unterstütz­t von pro-türkischen Kampfverbä­nden der Freien Syrischen Armee (FSA), vertrieben die YPG von der türkischen Grenze und aus Afrin. Rund 4500 kurdische Kämpfer wurden nach Angaben Ankaras getötet, syrische Freischärl­er rissen ein kurdisches Denkmal in der Stadt vom Sockel und zertrümmer­ten es.

Nun öffneten die türkischen Behörden Afrin erstmals seit der Vertreibun­g der YPG für ausländisc­he Journalist­en und verkündete ihnen dort den bevorstehe­nden Abzug: Die Türkei wolle in Afrin keine Be- versorgung – alles wird von der Türkei organisier­t und bezahlt. Auf einem Mast auf dem Verwaltung­sgebäude weht ganz oben die türkische Fahne und darunter die Flagge der syrischen FSA.

Manchen Einwohnern auf dem Platz vor dem türkischen Hauptquart­ier ist das ganz recht so. „Als die Kurden kamen, bin ich abgehauen“, sagt Omar Arras, ein 30-jähri- ger Student der Zahnmedizi­n, der sich mit dem Ausfahren von Medikament­en durchschlä­gt. Wie andere junge Männer befürchtet­e er, von der YPG zwangsrekr­utiert und an die Front geschickt zu werden. Diese Furcht trieb auch Omars Freund Mohammed aus der Stadt. Erst als im Frühjahr die Türken in Afrin einrückten, kehrten die beiden heim in ihre Stadt. An einen Abzug der Tür- ken wollen sie überhaupt nicht denken, denn ohne die militärisc­he Präsenz Ankara könnte die YPG zurückkehr­en. „Wenn die Türken gehen, gehe ich auch“, sagt Omar.

In den Läden vor der türkischen Residenz, die von den einfachen Leuten der „Palast“genannt wird, versuchen die Menschen, zur Normalität zurückzuke­hren. Ein Geschäft bietet Hühner an, die in Käfigen auf der Straße stehen, die Regale einer Apotheke sind gut bestückt. Es gibt Obst- und Lebensmitt­elhändler, Imbissstän­de und eine Bäckerei. Doch das Leben auf dem Marktplatz spielt sich unter den Augen der türkischen Soldaten ab, die den ausländisc­hen Reportern freundlich, aber bestimmt klar machen, dass sie nicht in die Seitengass­en des Stadtzentr­ums gehen sollten. „Da könnte es Probleme geben“, sagt ein Behördenve­rtreter aus der Türkei.

Erst wenige Tage vor dem Besuch der Presse hatte es ein solches „Problem“gegeben: Bei einem Autobomben-Anschlag starben im Stadtzentr­um von Afrin mindestens zehn Menschen. Zu der Tat bekannte sich eine militante Kurdenorga­ni- sation namens „Afrin-Falken“, eine Splittergr­uppe aus dem Umfeld der YPG. „Die Leute haben Angst“, sagt ein 22-jähriger Kurde, der in einer Bäckerei arbeitet. „Überall gehen Bomben hoch.“Über die YPG mag er nichts Schlechtes sagen: „Die ließen uns in Ruhe.“Ein anderer Mann, der nicht genannt sein will, kann ebenfalls nicht erkennen, dass mit der Ankunft der Türken alles besser geworden sei. „Wir wollen endlich Frieden“, sagt er.

Der türkische Anspruch, diesen Frieden und eine neue Sicherheit nach Afrin gebracht zu haben, kollidiert nicht nur in diesem Bereich mit der Wirklichke­it. So sagt ein Beamter aus Ankara, türkische Ingenieure hätten die Wasservers­orgung wieder hergestell­t, doch ein paar Meter vom „Palast“entfernt hört sich das anders an. So beschwert sich der junge Kurde in der Bäckerei, unter der Herrschaft der YPG sei es besser gewesen: „Früher gab es zweimal die Woche eine Stunde lang Wasser, heute ist es alle zehn Tagen einmal.“

Von Tag zu Tag werde das Leben besser, sagt dagegen der 31-jährige Mohammed, Mitglied im neuen Stadtrat von Afrin, der nach dem türkischen Einmarsch gebildet wurde. Immerhin sind die Schulen in der Stadt wieder offen, betont er. In insgesamt sechs Schulen in der Stadt, die auf Kosten der Türkei wieder aufgebaut worden sind, hat der Unterricht wieder begonnen. Türkische Regierungs­vertreter sprechen von einem „Modell Dscharablu­s“für die Zukunft von Afrin. In der syrischen Grenzstadt Dscharablu­s ist seit einem türkischen Einmarsch vor zwei Jahren eine von der Türkei ausgebilde­te Polizeitru­ppe im Einsatz. Sogar ein türkisches Postamt gibt es dort. Seit 2016 haben sich in Dscharablu­s nach türkischen Regierungs­angaben rund 200.000 syrische Flüchtling­e aus der Türkei angesiedel­t.

In Afrin läuft die Polizeiaus­bildung noch. Rund 2000 syrische Polizisten sind schon auf den Straßen der Gegend im Dienst, weitere 2000 sollen folgen. Aber was kann eine Ordnungstr­uppe aus unerfahren­en jungen Männern wie Hossein gegen bewaffnete Milizionär­e ausrichten, die sich längst daran gewöhnt haben, eigene Straßenspe­rren zu errichten und mit dem Sturmgeweh­r auf der Schulter mit Mopeds durch die Gegend zu fahren? Eine rasche Heimkehr der Türken mit ihrer militärisc­h überlegene­n Armee würde in Afrin wohl ein gefährlich­es Vakuum hinterlass­en und das erhoffte Ziel Ankaras – die Rückkehr von Flüchtling­en aus der Türkei nach Syrien – gefährden.

 ?? FOTO: AP ?? Türkische Soldaten sichern eine Straße im Zentrum von Afrin. Seit fast zwei Jahren stehen türkische Truppen bereits im Nordwesten Syriens. Im Frühjahr nahmen sie die bis dahin von kurdischen Milizen kontrollie­rte Stadt Afrin ein. Auch hier soll nun eine von der Türkei abhängige syrische Verwaltung aufgebaut werden.
FOTO: AP Türkische Soldaten sichern eine Straße im Zentrum von Afrin. Seit fast zwei Jahren stehen türkische Truppen bereits im Nordwesten Syriens. Im Frühjahr nahmen sie die bis dahin von kurdischen Milizen kontrollie­rte Stadt Afrin ein. Auch hier soll nun eine von der Türkei abhängige syrische Verwaltung aufgebaut werden.

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