Rheinische Post

Die Allgegenwa­rt des „Wir“

Das „Wir“hat gerade Konjunktur. Wer in der Öffentlich­keit etwas erreichen will, formuliert in der ersten Person Plural. Das suggeriert Gemeinscha­ftssinn. Dabei dient diese Strategie häufig der Abgrenzung.

- VON DOROTHEE KRINGS

Wir waren Papst. Wir haben das geschafft mit den Flüchtling­en, zumindest eine Zeit lang. Wir sind noch immer das Volk, wenn wir auch nicht mehr alle dasselbe damit meinen. Wir lieben den Wald. Wir sind die Mittelschi­cht und haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Wir sind eine Fußballnat­ion. Trotz allem. Das „Wir“hat Konjunktur. Kein Tag, an dem keine Parole geboren würde, in der ein „Wir“auftritt, das hofft oder bangt oder auf irgendetwa­s stolz ist. Das Personalpr­onomen in der ersten Person Plural klingt sympathisc­h und vertrauens­voll. Denn es ist kein selbstverl­iebtes „Ich“, kein moderner Egomane, keine dürre Einzelmein­ung. Das „Wir“steht auf breiter Basis, es umarmt, wen es will, und ist auf sprachlich­em Gebiet höchst integrativ.

Darum wird Chefs empfohlen, von ihren Entscheidu­ngen möglichst in Wir-Form zu sprechen. Politiker analysiere­n, fordern und mahnen in Vertretung eines Wir. Und so werden öffentlich­e Debatten immer seltener zwischen Meinungsge­gnern ausgetrage­n, die es wagen, Ich zu sagen. Stattdesse­n geben Sprecher vor, die Interessen einer Gruppe zu artikulier­en – in der ersten Person Plural: Wir müssen mehr Europa wagen, wir brauchen mehr Pflegepers­onal, wir sind empört über das Abschneide­n der deutschen Mannschaft. Das Wir schafft sprachlich Zusammenha­lt, es ist der grammatika­lische Kitt, den eine spröder werdende Gesellscha­ft dankbar aufsaugt. Wie geht es uns heute? Wir werden schon wieder gesund.

Doch wer „wir“sagt, formt nicht nur eine Gruppe, sondern grenzt sich auch von den anderen ab. Zum „wir hier“gehört nun mal in der Regel auch das „ihr dort“. In vielen Regionen der Erde schlägt sich das auch sprachlich nieder. In etwa 40 Prozent aller gesprochen­en Sprachen, vor allem im pazifi- schen Raum, gibt es eine Unterteilu­ng der ersten Person Mehrzahl in ein inklusives und ein exklusives Wir. In diesen Sprachen existiert also ein Wort, das alle Anwesenden meint, und eines, das – ähnlich wie die Formulieru­ng „wir beide“– eine Gruppe definiert und von den anderen abgrenzt.

Das Deutsche ist da weniger deutlich. Darum kann ein „Wir“nach Gemeinscha­ft klingen, aber Spaltung bezwecken. Am Ruf „Wir sind das Volk!“ist das überdeutli­ch geworden. Stand der Satz doch mal für eine friedliche Revolution, für Menschen in einem geteilten Land, die wieder gemeinsam leben wollten. Doch spätestens seit den Pegida-Märschen ist Volk für manche wieder der alte Kampfbegri­ff, der pseudonatü­rlich eine Gruppe definiert, zu der einige gehören. Andere nicht. Wie friedlich ein „Wir“gemeint ist, hängt auch von der Betonung ab.

In heute fast satirisch anmutender Form hat Schlagersä­nger Freddy Quinn einst die zwei Seelen des Wirs freigelegt. Mitte der 60er Jahre wollte er sich zur Imagepfleg­e mit der bürgerlich­en Mitte gegen „die Gammler“mit den ungewasche­nen Haaren verbrüdern und sang ein Lied, das er gleich „Wir“nannte. Darin schleudert er jenen, die „in Parks und Gassen herumlunge­rn, Kirchen beschmiere­n und sich zur lautstarke­n Meute formieren“, das Wir der Saubermänn­er entgegen, die ordentlich an der besseren Zukunft arbeiten. Ein schweigend­es Mehrheits-Wir sollte gegen die großmäulig­en Revoluzzer im Park aktiviert werden. Inzwischen haben die Jungs mit den ungewasche­nen Haaren von einst ihre Karriere als Außenminis­ter bereits hinter sich. Der Song wirkt heute mehr betulich denn kämpferisc­h, wurde damals jedoch als so belehrend empfunden, dass er die Hochphase in Quinns Karriere beendete.

Wer das „Wir“allzu triumphal anstimmt, wird der Spalterei überführt. Darum wird das Ausgrenzen­de heute meist dezenter versprachl­icht. Etwa

Das Personalpr­onomen in der ersten Person Plural ist kein selbstverl­iebtes „Ich“

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