Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Roman Folge 49

Und, wie ich sehe, gar nicht einmal betrunken. – Nun ja, du bist am rechten Ort, hast dich diesmal nicht in der Tür geirrt.“„Ich grüße Euer Hochwohlge­boren bis zur Erde“, rief der Rotarmist noch immer lachend. „Ich habe Euer Hochwohlge­boren sogleich erkannt.“

„Du kommst ein wenig spät, Kolja“, führ der Mann im Schlafrock fort. „Natalja Alexejewna und die kleine Lußja findest du nicht mehr. Aber ich bin noch da. Nun also, spuck’ dir in die Hände und lauf’, was du kannst. Sie werden für mich den vollen Preis bezahlen, werden dir nichts schuldig bleiben.“

Der Rotarmist trat in militärisc­h strammer Haltung vor Vittorin:

„Genosse Vorgesetzt­er! Haben Sie in der Angelegenh­eit Ihres Zimmers noch irgendwelc­heWünsche?Wenn nicht, dann werde ich jetzt gehen.

ERPELINO

– Vorwärts, Wanjka! Wünsche Gesundheit, Euer Hochwohlge­boren.“

„Sie waren soeben Zeuge eines sonderbare­n Wiedersehe­ns“, sagte der Mann im Schlafrock, als er mit Vittorin allein war. „Dieser Kolja war einmal mein Diener, und ich habe ihn aus meinem Hause gejagt, weil er nicht aufhörte zu stehlen. Nun ja, in gutem Angedenken hat er mich nicht behalten, er wird sich an mir rächen, gut, mag er es tun. – Nein, ich heiße nicht Seljukow, ich bin Baron Pistolkors, ehemaliger Kammerherr. Die Bolschewik­en haben mir die Ehre erwiesen, auf meinen Kopf einen Preis zu setzen, und sie taten recht daran, denn ich war Mitglied des ,Komitees zur Rettung des Vaterlande­s’ und habe den Sowjets einige Schwierigk­eiten bereitet. – Sie sind fremd hier. Sind Sie gekommen, um sich unsere Revolution anzusehen? Einen Danton, einen Robespierr­e zu finden? Glau- ben Sie mir, unsere Dantons und Robespierr­es sehen, aus der Nähe betrachtet, gar nicht erhaben aus. Die Wohnung? Ich habe sie von einem Offizier des Semjenowsc­hen Regiments zugleich mit seinen Papieren gekauft. – Ganz richtig, er hieß Seljukow. In Petersburg kannte mich ein jeder, hier aber konnte ich hoffen, in der Menge zu verschwind­en, darum kaufte ich die Papiere. Damals nämlich lebte Natalja Alexejewna noch.“

Sein Gesicht wurde noch grauer, noch verfallene­r. Eine Minute lang starrte er wortlos vor sich hin.

„Diphtherit­is, sagten die Ärzte“, fuhr er fort. „Und unsre kleine Lußja hat sie mit sich genommen. Vielleicht ist es besser so. Meine Seele war zu arm für sie. – Der Offizier? Jawohl, er ist mit seinem Regiment zur Front gegangen. Er hat Moskau verlassen. Vielleicht ist er auch nicht an die Front gegangen, wie kann ich wissen, wohin das Äpfelchen gerollt ist.“

Er bat Vittorin, sich mit dem kleineren der beiden Zimmer zufriedenz­ugeben. In wenigen Tagen werde er die ganze Wohnung zur Verfügung haben.

„Man wird mich verhaften“, sagte er.„Dieser Kolja war immer eine Ratte. Er wird zur Tscheka laufen und mich angeben, das ist schon sicher.“

„Und Sie wollen sich verhaften lassen?“rief Vittorin. „Sie werden sich nicht zur Wehr setzen, Ihr Leben verteidige­n? Sie müssen fort, heut noch, hier können Sie nicht bleiben. Vielleicht haben Sie einen Freund, der Sie für diese Nacht bei sich aufnimmt, und morgen werden Sie die Stadt verlassen, sich in Sicherheit bringen –“

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