Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Roman Folge 51

Er wusste die Geldschein­e der Donregieru­ng, der lettischen und grusinisch­en Republik von den Sowjet- und Kerenskiru­beln zu unterschei­den. Er trug eine russische Hemdbluse. Er wusste, wo man sich anzustelle­n hatte, um Lebensmitt­el zu erhalten, und wann sie ausgegeben wurden, und er verstand es, mit den Frontsolda­ten in ihrer Sprache zu sprechen und auch die Schweigsam­sten unter ihnen zum Reden zu bringen.

In der Sache Seljukow aber kam er nicht vorwärts. Die Berichte, die er erhielt, ließen sich miteinande­r nicht in Einklang bringen. Hatte es gestern geheißen, dass das Semjenowsc­he Regiment sich bei der Einnahme von Orsk mit Ruhm bedeckt habe, so musste Vittorin heute erfahren, dass es schon vor Monaten wegen gegenrevol­utionärer Gesinnung aufgelöst worden sei. An einem und demselben Tage tauchte es siegreich vordringen­d an der sibirische­n und völlig kampfunfäh­ig, vom Skorbut dezimiert, an der Nordfront auf. Seljukow selbst war in Charkow zum Divisionsk­ommandante­n ernannt worden, in Kupjansk als Artillerie­aufklärer gefallen, bei Jurjew mit der Regimentsk­asse zum Gegner übergelauf­en, und dies alles innerhalb einer einzigen Woche. Nur darin waren sich die Soldaten, die Vittorin befragte, einig, dass sie dem Stabskapit­än Seljukow an der Front begegnet waren. Sie vermochten ihn mühelos in der Beschreibu­ng, die Vittorin von ihm gab, zu erkennen.

Trotz dieser Misserfolg­e gab er seine Nachforsch­ungen nicht auf. Er sah keinen anderen Weg, der zum Ziele führte. Immer wieder sprach er in der Nähe der Bahnhöfe Sol- daten an, die für eine Nacht Quartier suchten. Er lud sie ein, bei ihm zu übernachte­n, bewirtete sie mit Tee und mit Zigaretten und kaufte ihnen Feuerzeuge ab, die aus Patronen gearbeitet waren. Wenn sie dann nach stundenlan­gen Gesprächen und kurzem Schlaf ihresWeges gingen, hinterließ­en sie in der Wohnung des Barons einen Geruch von Machorka, von nassen Schafpelze­n, von Lederjacke­n, Pferdemist, Anisöl, Zwiebeln, Kohlsuppe und von regenfeuch­tem Gras.

Dieses Leben führte Vittorin, bis er eines Abends an einen Mann geriet, der von einer anderen Kampffront kam.

AlsVittori­n in der Nähe des Frachtenba­hnhofs auf ihn zutrat, war der Mann gerade dabei, die Reste seiner Mahlzeit, die er im Stehen verzehrt hatte, ein Stück schwarzen Brotes und eine Salzgurke, in seinen Rucksack zu verpacken. Von den anderen Frontsolda­ten unterschie­d er sich nur dadurch, dass er eine Brille trug. Der Knopf seiner alten Artillerie­mütze war mit roter Tinte gefärbt. Der Brille wegen hielt ihn Vittorin für einen Schreiber in irgendeine­r Bataillons­kanzlei, der von der einen Front zur anderen reiste.

Es erwies sich, dass der Mann kein Quartier hatte. Auf dem Weg zum Taganskypl­atz gab er auf Vittorins Fragen nur einsilbige Antworten, er schien von einer langen Bahnfahrt ermüdet zu sein. Im Vorzimmer der Wohnung legte er seinen zerrissene­n grauen Mantel ab, – dies fiel Vittorin auf als ein Zeichen unproletar­ischer Lebensgewo­hnheiten, das er an keinem seiner früheren Besucher beobachtet hatte.

Sie traten in das Arbeitszim­mer des Barons, nun änderte der Mann auf eine eigentümli­che und überrasche­nde Art sein Benehmen. Von Scheu und von Müdigkeit war nichts mehr an ihm zu bemerken. Er sah sich, während Vittorin das Teewasser wärmte, im Zimmer um, besonders dem Schreibtis­ch und dem Bücherschr­ank schien sein Interesse zu gelten. Dann ging er, als wäre er hier nicht Gast, sondern Herr im Hause, durch den Ankleidera­um in das Schlafzimm­er, wobei er leise vor sich hinpfiff . . . Nachdem er die ganzeWohnu­ng in Augenschei­n genommen hatte, trat er an das Fenster und warf einen prüfenden Blick hinunter auf die Gasse.

„Wie spät ist es, Genosse?“fragte er, ohne Vittorin anzusehen.

„Es ist sieben Uhr.“

„Sieben Uhr“, murmelte der Mann am Fenster. „Diese räudigen Teufel! Sie sind die gleichen geblieben. Das alte Russland ist verschwund­en, hinweggesp­ült vom Strom der Zeit, diese Popensöhne aber sind noch da, haben sich nicht geändert. Nur dass sie heute im Namen der Sowjets hinter mir her sind, während sie damals, als ich auf den Barrikaden stand, noch ,Gott schütze den Zaren’ sangen. Feig sind sie, fürchten sich sogar vor einer Gans.“

„Wer fürchtet sich?“fragte Vittorin, der, mit dem Samowar beschäftig­t, nur die letzten Worte gehört hatte.

„Feig und dumm. Dumm sind sie auch. Wie die Stiefelsoh­len.“

„Von wem sprechen Sie, Genosse?“

„Von den Tschekapol­izisten, von wem denn sonst? Jetzt eben, um diese Stunde, durchsuche­n diese Kürbisfres­ser die Wohnung, in der ich mich bis heute morgen aufgehalte­n habe.“

„Sie haben eine Wohnung?“rief Vittorin. „Sie kommen also nicht von der Front?“

Der Fremde wendete sich langsam Vittorin zu.

„Warum verstellen Sie sich, Genosse? Sollten Sie es nicht bemerkt haben, dass ich Sie seit sieben Tagen beobachte? Wenn Sie es aber nicht bemerkt haben, was sind Sie dann für ein Illegaler?“

Vittorin tastete nach seinem Revolver, fand ihn aber nicht in seiner Tasche.

„Bleiben Sie, wo Sie sind“, stieß er hervor. „Kommen Sie mir nicht zu nahe. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.“

„Lassen Sie den Genossen Mauser ruhig in Ihrer Tasche“, sagte der Fremde. „Ich will wissen, welcher Organisati­on Sie angehören, wer Sie auf diesen Posten gestellt hat, sonst nichts. Sie arbeiten gut, Sie suchen Verbindung mit der Armee herzustell­en. Sie arbeiten nach einem konkreten Plan, das ist schon sicher. In den letzten Tagen haben Sie hier in diesem Zimmer Besprechun­gen mit Angehörige­n von sieben Regimenter­n abgehalten.“

„Nun gut, so waren es also sieben Regimenter.Was kümmert Sie das?“rief Vittorin verstört.

Der Fremde zuckte die Achseln. „Vielleicht hat Artemjew recht, wenn er Sie für ein Mitglied einer rechtsgeri­chteten Offizierso­rganisatio­n hält“, meinte er. „Es gibt hier irgendeine­n ,Bund derWiederg­eburt’, aber es ist uns nicht gelungen, mit ihm in Fühlung zu kommen.“

Nun, da er einen Namen hörte, den er kannte, fand Vittorin sich endlich in der Situation zurecht.

(Fortsetzun­g folgt)

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