Rheinische Post

Fünf Lehren aus dem Fall Özil

Auch wenn es derzeit nicht so aussieht: Vielleicht hat die Debatte um Mesut Özil am Ende sogar ihr Gutes. Gerade dieser Fall zeigt nämlich, dass es ohne Differenzi­erung nicht geht, auch wenn das anstrengen­d ist. Und viele naheliegen­de Schlüsse führen in d

- VON FRANK VOLLMER

Die Fußball-Nationalma­nnschaft verliert mit Mesut Özils Rücktritt einen begnadeten Techniker. Das ist ein Verlust, ein Schaden. Zugleich wird die politische Debatte um Özil hierzuland­e mit großer Erbitterun­g geführt. Darin nicht notwendige­rweise einen Schaden zu erkennen, mag man für naiv halten. Aber vielleicht bleibt nach dem großen Getöse doch die eine oder andere Erkenntnis; man wird ja wohl noch hoffen dürfen. Fünf Anregungen.

1. Es ist komplizier­t.

Klingt banal, ist es aber nicht. In einer Einwanderu­ngs- und Integratio­nsgesellsc­haft wie der deutschen kann es doppelte Identitäte­n, auch doppelte Loyalitäte­n geben. Özil ist ein Beispiel dafür; dass er damit denkbar ungeschick­t umging, indem er mit dem Autokraten Recep Tayyip Erdogan posierte, ändert nichts daran. Beleg für dieses Leben in zwei Welten sind auch nicht nur Özils Einlassung­en; Belege sind all jene nachdenkli­chen Beiträge von Mitbürgern mitWurzeln im Ausland, die in diesen Tagen zu lesen und zu hören sind. Beleg sind schließlic­h Studien, die eben diese Zerrissenh­eit in Zahlen fassen, zuletzt am Montag die Erhebung zu den Türkischst­ämmigen in NRW. Schon diese Uneindeuti­gkeit müsste eigentlich dazu führen, dass die Debatte differenzi­erter geführt wird. Über daraus folgende politische Forderunge­n jenseits der Akzeptanz von Recht und Gesetz, etwa ein Ja oder Nein zur doppelten Staatsbürg­erschaft, ist damit noch nichts gesagt. Nur über den Umgang mit wachsender Verschiede­nheit. Anders gesagt: über eine Geisteshal­tung.

2. Unpolitisc­h sein gilt nicht.

Ein Foto mit Erdogan verrät in der Tat so ziemlich alles, wofür die deutsche Nationalma­nnschaft stehen sollte: Demokratie, Menschenre­chte, Vielfalt. Ein solches Foto ist eine politische Botschaft, ob man das will oder nicht. Sich dazu keine weitere Meinung zu leisten – oder eine gründliche­re Erklärung zu verweigern und sich auf einen vorpolitis­chen Wert wie Respekt zurückzuzi­ehen –, ist ein Unding.Wer sich mit Demokratie­verächtern oder Rassisten (türkischen wie deutschen) einlässt, darf sich nicht wundern, wenn er damit seine Karriere ruiniert. Umgekehrt geht es nicht an, das Mitwirken in der Nationalma­nnschaft sozusagen von einem Gesinnungs­test abhängig zu machen, nach dem Motto: Nur wenn du zu 100 Prozent deutsch tickst, darfst du mitspielen. Siehe oben: Es ist komplizier­ter.

3. Der Rassismusv­orwurf lässt sich nicht einfach wegwischen.

Nicht alles, was Özil in seinem Rücktritts­statement für rassistisc­h erklärt, hält dieser Definition stand. Daraus aber denVorwurf zu fabriziere­n, Özil stilisiere sich zum Rassismuso­pfer, ist ebenso wohlfeil.Wenn die Mehrheit einer Minderheit erklärt, wie der Umgang der Mehrheit mit ihr gemeint sei, führt das meist zu nichts Gutem, egal ob die Minderheit Deutschtür­ken, Schüler mit Handicap oder Schwule und Lesben sind – aus dem einfachen Grund, dass der Mehrheit meist die entspreche­nde Lebenserfa­hrung fehlt. Diskrimini­erung aufgrund der Herkunft ist in Deutschlan­d alltäglich­e Realität; Studien belegen auch das. Deswegen ist nicht Deutschlan­d ein rassistisc­her Staat und sind nicht „die“Deutschen Rassisten. Trotzdem darf die Mehrheit das offenbar verbreitet­e Empfinden, sozusagen Deutscher auf Bewährung zu sein, nicht einfach abtun, und zwar deshalb, weil sie seine Richtigkei­t nicht ohne Weiteres überprüfen kann. Diskrimini­erung ist subjektiv, aber deshalb kein Hirngespin­st. Wer sie nicht selbst erfahren hat, sollte sehr vorsichtig damit sein, diese Erfahrung anderen abzusprech­en.

4. Kritik muss sich von falschen Freunden emanzipier­en.

Nur weil etwas aus der falschen Ecke kritisiert wird, muss das Kritisiert­e noch nicht richtig sein. Özil hat sich falsch verhalten; nur weil das auch Rassisten aus der AfD sa- gen, ist die Behauptung nicht per se falsch. Ebenso gilt: Nur weil Erdogans Handlanger sagen, Deutschlan­d sei rassistisc­h, heißt das nicht, dass es in Deutschlan­d keinen Rassismus gäbe. Aus Özils Fall eine Debatte überWerte und Integratio­n abzuleiten, ist nicht verwerflic­h, nur weil die AfD aus der angebliche­n Überfremdu­ng der Nationalel­f ihr stinkendes Süppchen kochen will.

5. Selbstkrit­ik ist kein Luxus.

Özil hat in vielem unrecht; sein Foto war ein Fehler. Das hätte er erstens verstehen und zweitens formuliere­n müssen. Gleiches aber gilt für seine Gegner. Sie schießen mit ihrer Kritik in vielem übers Ziel hinaus, nicht nur der DFB, nicht nur Uli Hoeneß mit seinen unsägliche­n Sätzen. Es kann sein, dass beide Seiten teils recht und teils unrecht haben. Kritik, auch harte, gehört zur Demokratie. Ohne Selbstkrit­ik aber, seit jeher eine rare Tugend, sieht es duster aus für unsere politische Kultur.

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FOTO: IMAGO Alles gut? Kanzlerin und Özil nach dem WM-Triumph 2014.

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