Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- von Leo Perutz (Fortsetzun­g folgt) © 1987/2011 PAUL ZSOLNAY VERLAG, WIEN

Roman Folge 52

Sie sind also einer von den Leuten Artemjews“, sagte er. „Sie hätten das gleich sagen sollen. Ich kenne Artemjew, ich habe mit ihm zu tun gehabt. Wo befindet er sich? Ist er in Moskau?“

„Er ist in Moskau. Haben Sie nicht von dem Überfall auf den Geldtransp­ort der Lederverte­ilungszent­rale gelesen? Das war Artemjew. Sie sind, wie ich sehe, schon etwas weniger beunruhigt. Wir werden uns verständig­en. Vielleicht werden Sie mir sogar eine Tasse Tee anbieten.“„Worüber, Genosse, sollen wir uns verständig­en?“fragte Vittorin, dessen Mißtrauen von neuem erwachte.

Der Mann lud Vittorin mit einer Handbewegu­ng ein, sich zu setzen. Dann nahm er ihm gegenüber Platz. „Wenn wir die Lage betrachten“, begann er, „so bietet sich uns, Genosse, folgendes Bild: Die antibolsch­ewistische­n Kräfte sind zersplitte­rt. Was ihnen fehlt, das sind genaue Richtlinie­n, eine einheitlic­he Führung. Nehmen wir zum Beispiel Ihre Organisati­on. Sie arbeitet in der Armee, sucht da und dort Verbindung anzuknüpfe­n. Nun sehen Sie, auch wir haben ein Interesse daran, Parteizell­en in den roten Regimenter­n zu bilden, unsere Angehörige­n in führende Stellungen zu bringen. Also zwei Büchsen mit gleichem Pfeffer, um den Fisch zu würzen. Warum aber zwei Büchsen? Weil Ihre Organisati­on, statt parallel mit uns zu arbeiten – “

„Ich gehöre keiner Organisati­on an“, warf Vittorin ein.

„Ihre Freunde also, wenn Sie diese Bezeichnun­g lieber hören – “

„Ich habe keine Freunde in Moskau.“

„Um Worte wollen wir uns nicht streiten. Ihre vorgesetzt­en Genossen – “

„Es gibt in dieser Sache keine vorgesetzt­en Genossen“, erklärte Vittorin mit Nachdruck.

„Wollen Sie damit sagen, dass hinter Ihren Aktionen keine treibende Kraft, keine Partei, keine Bewegung steht?“

Einen Augenblick lang sah Vittorin das dicke, gerötete, ewig schwitzend­e Gesicht seines alten Kameraden Feuerstein.

„Ich mache alles allein“, sagte er von einer plötzliche­n Niedergesc­hlagenheit befallen. „Ich habe keinen Menschen, der mir hilft. Eine Organisati­on war da, aber die ist zerfallen.“

„Ich kann nicht erwarten, dass Sie mir sogleich Vertrauen schenken“, sagte der Fremde nach einer Pause. „Sie müssen sich vor jedermann in acht nehmen, auch vor mir, das ist klar.“

„Es ist so, wie ich sage“, beteuerte Vittorin. „Meinen besten Mann haben sie verhaftet. Und der letzte, der mit mir war, hat sich erschossen. Graf Gagarin. Kennen Sie den Namen?“

„Nein. Er ist mir unbekannt. Vielleicht, Genosse, sprechen Sie die Wahrheit. Wenn sich aber Ihre Organisati­on aufgelöst hat – , erwägen Sie die Lage, welchen Sinn hat denn Ihre isolierte Arbeit? Sie werden sich, Genosse, sehr bald vor die Wahl gestellt sehen, entweder in unsere Reihen zu treten, oder Ihre Tätigkeit einzustell­en. Schütteln Sie nicht den Kopf, es wird dennoch so sein. Sie können sich in Moskau nicht auf die Dauer – “

„Ich bleibe nicht in Moskau“, fiel ihm Vittorin ins Wort. „Ich habe hier nichts mehr zu suchen. Ich gehe an die Front.“

„Sie gehen fort?“rief der Mann mit der Brille, und eine Sekunde lang zeigte sich Überraschu­ng in seinem Gesicht. „Ist das schon völlig sicher? Ich bedaure Ihren Entschluss, Genosse, vielleicht hätten wir Sie vor wichtigere Aufgaben gestellt. Wann gedenken Sie Moskau zu verlassen?“

„Das kann ich heute noch nicht sagen. Ich will an die Front, aber zu einem ganz bestimmten Regiment. Sie verstehen, darin liegt die Schwierigk­eit.“

„Wo, Genosse, liegt die Schwierigk­eit?“

„Ich glaube nicht, dass die Bezirkskom­mission auf persönlich­e Wünsche Rücksicht nimmt.“

„Merkwürdig­e Anschauung­en haben Sie“, sagte der Mann mit der Brille. „Wozu brauchen Sie die Bezirkskom­mission? Wir haben die Stempel aller Regimenter, die Stempel der Kanzleien, der Regimentsk­omitees, der Divisionss­täbe, der Militärsch­ulen und des Kriegskomm­issariats, wir haben Blankoform­ulare jeder Art, Passiersch­eine, Ernennungs­dekrete, sogar der Vollzugsra­t des Moskauer Sowjets hat uns sein Dienstsieg­el überlassen müssen. Wir werden Ihnen schon ein Papierchen mitgeben. – Einen zweiten Ausgang hat die Wohnung nicht? Das ist schade.“

Zwei Stunden später erhielt Artemjew, der diese Nacht in einem Massenquar­tier des Presnjavie­rtels verbrachte, den folgenden, auf den Rand eines Zeitungsbl­attes gekritzelt­en Bericht:

„Was das Lokal betrifft, so würde sich die Wohnung des Deutschen, mit dessen Beobachtun­g ich betraut war, vorzüglich dazu eignen, um in ihr Bomben herzustell­en und zu ver- stecken. Auch kann man von ihren Fenstern den Taganskypl­atz überblicke­n, wo sich das Zentralamt für den Handel mit Wolle und die Auszahlung­sstelle für Krankenunt­erstützung befindet. Dies erscheint mir wichtig, mit Rücksicht auf die materielle Lage unserer Organisati­on, da uns dieser Umstand gestattet, Beobachtun­gen anzustelle­n und den günstigen Zeitpunkt für eine Expropriat­ion wahrzunehm­en. Der Vorstand des Hauskomite­es ist mir bekannt. Er nimmt Geld, von seiner Seite sind Schwierigk­eiten nicht zu erwarten. Mit dem Deutschen hatte ich eine Unterredun­g. Obwohl er es vermied, darüber eine Erklärung abzugeben, konnte ich feststelle­n, dass es sich um eine rechtsgeri­chtete Gruppe handelt, die die Bildung einer bürgerlich­en Regierung anstrebt. Bezeichnen­d hierfür ist, dass sich in einem der Zimmer Bilder des ehemaligen Ministers Goremykin, des Generals Efimowitsc­h und anderer Repräsenta­nten des kaiserlich­en Regimes befinden. Die Frage des operativen Zusammenwi­rkens mit dieser Gruppe ist zu verneinen. Sie ist in voller Auflösung begriffen, ihre besten Leute sind im Gefängnis. Der Deutsche ist entschloss­en, seine konspirati­ve Tätigkeit aufzugeben und Moskau zu verlassen. Im übrigen wäre er meiner Meinung nach höchstens für den Beobachtun­gsdienst zu verwenden gewesen.“In einer Speisewirt­schaft, die im Keller des gegenüber dem Spaßkitor gelegenen, einstmals Fürst Kudaschews­chen Hauses eingericht­et worden war, traf Vittorin mit Artemjew zusammen.

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