Rheinische Post

Internat statt Internet

Sinkende Nachfrage stürzt viele Internate in finanziell­e und pädagogisc­he Probleme. Die Lernform Internat gilt vielen Eltern als unzeitgemä­ß, trotz Harry Potter. Die Chance liegt in einer maßvollen Distanz zur Außenwelt.

- VON FRANK VOLLMER RP-KARIKATUR: NIK EBERT

Hinter Goch wird das Netz löchrig. Kurz vor der Grenze dann: kein Empfang. Zumindest bis das Handy das niederländ­ische Netz gefunden hat – seit der Abschaffun­g der Roaminggeb­ühren ist man auch hier mobil versorgt. Für Durchreise­nde erfreulich, für die Schule, die hier in den Wiesen liegt, durchaus ein Dilemma: das Collegium Augustinia­num Gaesdonck, „die Gaesdonck“, ein katholisch­es Gymnasium mit Internat. Gegenentwu­rf zur Außenwelt zu sein, aber nicht weltfremd, modern, ohne allen Moden zu folgen – das ist die Gratwander­ung der Internate in Deutschlan­d, nicht nur der kirchliche­n.

Diesen Balanceakt gibt jetzt ein weiteres renommiert­es katholisch­es Internat auf: das Aloisiusko­lleg in Bonn. Eine Belegung mit 38 Schülern bei einer Kapazität von 150 sei weder pädagogisc­h noch wirtschaft­lich vertretbar gewesen, begründete der Jesuitenor­den, der die Schule trägt. Das Internat schließt zum Schuljahre­sende; der Betrieb des regulären Gymnasiums läuft weiter.

Das „Ako“steht für einen Trend: Die Zahl der Internatss­chüler sinkt, nach allem, was man weiß, denn belastbare Gesamtzahl­en für Deutschlan­d gibt es nicht. Immerhin aber für NRW: Hier waren im aktuellen Schuljahr 2866 Internatsp­lätze belegt – fast 40 Prozent weniger als vor zehn Jahren. Die Zahl der Schulen mit Internat sank von 64 auf 44. Von 580 im Jahr 2009 sank die Zahl der Schüler katholisch­er Internate in NRW auf derzeit noch 360, die der Schulen mit Internat von zehn auf sechs.

2016 untersucht­e derVerband Katholisch­er Internate und Tagesinter­nate, woran das liegt. Die Umfrage stützt sich zwar nur auf 544 Eltern, zeigt aber die Probleme: Ohnehin nur etwa ein Drittel verbindet Internate mit Attributen wie „zeitgemäß“und „tolerant“. Die Werte katholisch­er Internate aber liegen bei diesen Kriterien nur etwa halb so hoch, deutlich höher dagegen bei„ weltabgewa­ndt “,„ einengend “,„ streng“und „konservati­v“. Immerhin gelten sie als weniger elitär und deutlich günstiger als ihre weltlichen Pendants.

Insgesamt aber darf man wohl von einem Imageprobl­em der Lernform Internat sprechen. Strukturel­le Gründe kommen hinzu: Ganztagssc­hulen leisten die erwünschte Betreuung oft auch; der Wechsel ins Internat erfolgt später, gern erst zur Oberstufe; wer das Geld hat, wählt oft das Ausland. Allein 2860 Deutsche besuchen britische Internate.

Der Missbrauch­sskandal tat ein Übriges. Internate wie St. Blasien und die Odenwaldsc­hule waren Tatorte. Speziell für die kirchliche­n Schulen sei das verheerend gewesen, sagt Doris Mann, Schulleite­rin der Gaesdonck: „Weil sich zeigte, dass an den betroffene­n Schulen die Wirklichke­it nicht mit den vertretene­n Werten übereinsti­mmte.“Der Rektor des„Ako“sieht einen Grund für das Aus des Internats explizit im Missbrauch – hier identifizi­erte ein Untersuchu­ngsbericht 23 Ex-Mitarbeite­r als belastet.

Internate mit ihrer umfangreic­hen Infrastruk­tur sind zudem im Unterhalt besonders teuer – die Gaesdonck etwa muss alles, was nicht an„ normaler“Privatschu­l finanzieru­ng von Land und Bistum kommt( etwa für Sachkosten und Personal), aus ihrer Stiftung oder aus Eltern beiträgen bestreiten .65 Voll internats schüler wie derzeit reichen dafür nicht. Der Wechsel vom neun-zum achtjährig­en Gymnasium riss den Internaten ein zusätzlich­es Loch: Plötzlich fehlten ein Jahrgang und damit Beiträge. Die Gaesdonck wechselte daher 2011 im Zuge eines Schulversu­chs wieder zu G9, als eins von nur 14 Gymnasien landesweit. Nicht jeder kann oder will zudem wie Salem Jahresbeit­räge von gut 40.000 Euro aufrufen. An der Gaesdonck ist es etwa die Hälfte.

Salem ist ohnehin ein Sonderfall: eins der wenigen Internate, deren Namen El-

„Ein Gegenentwu­rf zur Konsumwelt müsste doch attraktiv sein“Doris Mann Internat Gaesdonck

tern in der Umfrage 2016 nennen konnten, mit einer jüngst rasant gestiegene­n Ausländerq­uote von inzwischen 40 Prozent und massiver weiterer Nachfrage gerade aus dem Ausland. Auch die Gaesdonck will internatio­naler werden, allerdings, wie Doris Mann betont, mit „einer gesunden Mischung“.

Wie also profiliere­n sich Internate? Salems Schulleite­r Bernd Westermeye­r sieht eine kritische Masse, in seinem Fall rund 600 Schüler, für ein umfassende­s Unterricht­sangebot. „Ich fürchte, dass viele kleinere Internate zunehmend Probleme haben werden“, sagt er.

Ein anderer Aspekt ist weniger eindeutig zu beschreibe­n. Westermeye­r hält das Internat für „eine soziale Herausford­erung in Zeiten des allgemeine­n Luxus“– und deshalb für attraktiv. Es sei„der eigentlich­e Mehrwert der Schule“. An der Gaesdonck denkt man ganz ähnlich. Natürlich könne man etwa die klare Tagestaktu­ng „als Einschränk­ung der Freiheit verstehen“, räumt Doris Mann ein. Aber: „Ein Gegenentwu­rf zur schnellleb­igen Konsumwelt müsste doch für viele Eltern attraktiv sein – der Markt müsste so groß sein, dass es reicht.“Ihre Schlussfol­gerung: „Es geht auch um Marketing. Das Produkt Gaesdonck ist offensicht­lich noch nicht bekannt genug.“Derzeit kommen die Schüler, ganz anders als in Salem, vor allem aus dem eigenen Bundesland.

Zum Gegenentwu­rf gehört auch der Umgang mit dem Internet. Dass es hinter Goch nun Empfang gibt, ist deswegen eine zweischnei­dige Sache. Fünftbis Siebtkläss­ler haben dort keinen Zugang zum W-Lan, ab Klasse 8 gibt es feste Zeiten – anders als oft zu Hause. In Salem ist noch für die Mittelstuf­e die private Nutzung internetfä­higer Geräte von 21.30 Uhr bis 14.30 Uhr tabu.

Harry Potter habe dem Ruf der Internate sehr geholfen, heißt es in Salem: mehr Abenteuer, weniger Kaderschmi­ede. An der Gaesdonck haben sie sich vorgenomme­n, online sichtbarer zu werden, etwa bei Youtube. Es sind neue Zeiten für die Internate – Zeiten, die man gern vornehm mit dem Wort „Herausford­erung“beschreibt.

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