Jüngste Weltmeisterin im Weitsprung
Und das war so einfach möglich? DRECHSLER Auch wenn ich mir zunächst keine tiefgründigen Gedanken gemacht hatte, war mir klar, dass ohne eine gründliche Vorbereitung nichts geht.
Das bedeutete?
DRECHSLER Den Kampfrichterschein zu machen – zwei Wochenenden Ausbildung plus Praxis. 2017 in Ulm bei der Junioren-DM habe ich acht Stunden in der Sommerhitze an der Grube gestanden und Sand geharkt – das war schon extrem.
Wie haben die Kampfrichter auf Ihre prominente Kollegin reagiert? DRECHSLER Es war klar, dass ich nicht von allen mit offenen Armen empfangen werden würde. Einige dachten, das sei bloß ein PR-Gag. Deshalb gab es auch vereinzelt kritische Stimmen. Und Konkurrenzdenken gibt es unter Kampfrichtern auch.
Wie haben Sie die EM-Nominierung geschafft?
DRECHSLER Ich wusste, es geht nur über die Ausbildung. Also habe ich die erforderlichen Schulungen gemacht. Inzwischen hatte ich meine Einsätze, und es ist akzeptiert. Weil die Kollegen gesehen haben, dass ich arbeiten kann. Dass ich nicht einfach daherkomme und sage: Ich möchte aber die rote und die weiße Fahne schwenken – das ist Aufgabe des sogenannten Obmanns. In der Hierarchie bin ich unten angesiedelt. Ich hätte auch kein Problem damit, für Robert Harting den Diskusring trocken zu wischen, wenn es regnet. Ich bin mir für nichts zu schade.
Stehen Sie nur für den Weitsprung der Frauen auf dem EM-Dienstplan?
DRECHSLER Nein, wir sind ein Team, das für alle horizontalen Sprünge vorgesehen ist, also auch für den Dreisprung und die Mehrkämpfe, bei Frauen und bei Männern – das bedeutet eine volle Arbeitswoche lang harken, harken und nochmal harken. Welche Glanzlichter erwarten Sie in den Tagen von Berlin? DRECHSLER Der Speerwurf mit Olympiasieger Thomas Röhler, Weltmeister Johannes Vetter und Andreas Hofmann, die in der Jahresweltbestliste die ersten drei Plätze belegen, zählt aus deutscher Sicht dazu. Starke Frauen haben wir im Sprint: Gina Lückenkemper und die Staffel zählen zu den Titelaspiranten, dann Hürdensprinterin Pamela Dutkiewicz und Hindernisläuferin Gesa Krause – das werden tolle Rennen.
Und worauf freuen Sie sich am meisten? DRECHSLER Ist doch klar: Auf den Weitsprung der Frauen mit Malaiko Mihambo. Sie ist aktuell die beste Deutsche, hat großes Entwicklungspotenzial, ist ein Fighter – mit dem nötigen Selbstbewusstsein wird sie eine Medaille machen.
Damals lag Ihr WM-Sieg von Helsinki bereits 17 Jahre zurück. Wie war Ihr zweiter Olympiasieg im Jahr 2000 möglich?
DRECHSLER Dank meiner Gelassenheit und großen Erfahrung. Ich war 35, hatte schon alle Titel gewonnen und wollte nichts mit Gewalt. Das Wichtigste war mir damals, gesund zu sein und durchzukommen.
Wie empfanden Sie Sydney in Relation zu den Spielen zuvor? DRECHSLER Die Atmosphäre vor 110.000 Zuschauern war einmalig, es waren für mich die schönsten Spiele. Seoul 1988 empfand ich als Arbeiterspiele, weil ich inklusive Sprints und Staffel zehnmal an den Start musste. Barcelona 1992 – das waren Druckspiele, ich wollte unbedingt gewinnen. Und 2000 – das waren Genussspiele. Das Drumherum war mir viel bewusster, weil mir klar war, es ist das letzte Mal, dass ich an Olympia teilnehme.
Ihre Karriere war unglaublich intensiv. 1983 mit 18 wurden Sie Weltmeisterin, waren Sportheldin der DDR. Dann kam die Wende – und Ihr Olympiasieg für das vereinte Deutschland. Mit welchem Empfinden schauen Sie auf diese wechselvollen Jahre zurück und wie sehen Sie die Schattenseiten des DDR-Sports drei Jahrzehnte später? DRECHSLER Ich bin dankbar dafür, dass ich beide Seiten so intensiv erleben durfte. Mit dem Abstand betrachtet haben diese kolossalen Veränderungen meine Persönlichkeit geprägt. Sie haben meinen Blickwinkel auf die Dinge verändert, mir eine feste Meinung vermittelt aus der Erfahrung, die ich mitgenommen habe. Ich habe eine kritische Distanz zu dem Geschehenen entwickelt, habe Klarheit gewonnen.
Sie meinen damit das Thema Leistungsmanipulation. Wie ist Ihre Einstellung im Jahr 2018? DRECHSLER Der Leistungssport steckt in einer anderen Epoche, und es ist gut, dass man die Dinge hinterfragt. Die Probleme waren da- Geboren am 16. Dezember 1964 in Gera
1983 wurde sie die bis heute jüngste Weitsprung-Weltmeisterin.
Viermal in Folge holte sie in ihrer Paradedisziplin EM-Gold, 1986 bis 1998.
DDR Sie war Sportheldin der Republik und gehörte als FDJ-Abgeordnete der Volkskammer an. Zwei Olympiasiege 1992 in Barcelona und 2000 in Sydney siegte sie im Team des vereinten Deutschlands.
Unkenntnis Früher sagte Drechsler, sie habe nie wissentlich Doping-Mittel genommen. Sie habe als junge Frau nicht gewusst, was wirklich gelaufen sei.
mals wie heute von Menschen gemacht, und es ist wichtig, dass eine Öffentlichkeit da ist, die auf Aufklärung drängt.
Sie wirken heute sehr im Reinen mit sich.
DRECHSLER Ich bin mit mir im Reinen. Ich habe auf den Tisch gelegt, was zu erzählen war. Ich schaue nach vorne. Je mehr Abstand man zu den Dingen hat, desto mehr verändern sich auch die Sichtweisen. Ich weiß einfach mehr, ganz anders als in den 80ern als Teenager.
Als Kampfrichterin wollen Sie nun etwas zurückgeben, warum nicht auch als Trainerin?
DRECHSLER Ich habe es tatsächlich im Hinterkopf, mich im Nachwuchsbereich einzubringen. Die Leistungssportreform zielt auf die Spitze, aber ich bin der Meinung, dass es an Trainern für Jugendliche fehlt. Wenn wir an der Basis keine guten Trainer haben, die Techniken vermitteln, dann haben wir in Zukunft ein Problem.
Sie genießen große Wertschätzung im Internationalen Olympischen Komitee. Sehen wir Sie in Ihrer neuen Rolle als Kampfrichterin vielleicht auch 2020 bei den Spielen in Tokio?
DRECHSLER Das wäre was. Aber das geht nur Schritt für Schritt. Außerdem gibt es viele, die diesen Traum haben. Aber vielleicht wird es ja auch meiner.