Rheinische Post

Mehr Liberalism­us wagen

Weltweit ist die Demokratie wieder auf dem Rückzug, und hierzuland­e wird wieder gern in Kollektive­n gedacht: wir gegen die. Beides ist ein Verrat an unseren Traditione­n. Ein Plädoyer für eine alte, aber sehr aktuelle Tugend.

- VON FRANK VOLLMER

Im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur liberal“– diesen schönen, wenn auch auf den ersten Blick unsinnigen Satz verdanken wir Loriot. Er ließ ihn 1977 den fiktiven FDP-Politiker Claus-Hinrich Wöllner sagen. Wöllner sagt den Satz, den er offenbar sehr mag, dreimal, und sonst nichts von Belang.

Das Schöne an dem Spruch ist nicht nur seine Absurdität, sondern auch, paradox genug, bei Loriot allerdings nicht weiter verwunderl­ich, dass er gar nicht ausschließ­lich Quatsch ist. Aber es ist ja so: Eine liberale Weltsicht erschöpft sich nicht in liberaler Parteipoli­tik. Dieser Text ist deswegen keine Aufforderu­ng, die FDP zu wählen. Er ist auch keine Aufforderu­ng, die FDP nicht zu wählen. Er ist ein Plädoyer für mehr Liberalism­us in der Politik.

Die Encyclopæd­ia Britannica definiert Liberalism­us als „politische Doktrin, die den Schutz und die Erweiterun­g der Freiheit des Einzelnen für das zentrale Problem der Politik hält“. Der Liberalism­us kreist um das Individuum. Damit ist er mindestens so sehr Politiktec­hnik wie -inhalt, ähnlich wie der Populismus, dessen Gegenteil der Liberalism­us ist. Wie es rechte und linke Populisten gibt, gibt es liberale Konservati­ve und Sozialdemo­kraten. Man kann aber kein liberaler Kommunist sein und kein liberaler Nationalis­t, denn dem Liberalism­us widerspric­ht das Denken in Kollektive­n, ohne das Kommuniste­n und Nationalis­ten nicht auskommen.

Gedanklich­er Kollektivi­smus greift derzeit wieder Raum – Zuwanderer hier, Alteingese­ssene da, Deutsche mit und ohne Migrations­hintergrun­d, die Deutschtür­ken und die anderen, die Rechten und die Linken, die Rassisten und die Gutmensche­n, Amerika zuerst, dann der Rest der Welt. Hier wir, da die.

Der klassische Liberalism­us trat an, den Untertan gegen den Staat zu verteidige­n und aus ihm einen Bürger zu machen. Der Wirtschaft­sliberalis­mus trägt das Banner des Freihandel­s und des Privateige­ntums. Heute, da die liberale Demokratie weltweit wieder auf dem Rückzug ist, ist ein intellektu­eller Liberalism­us nötiger denn je: gegen die verführeri­sche Enge des geistigen Kollektivi­smus. Es braucht so viel Differenzi­erung wie möglich, Entschloss­enheit zur schwierige­n Lösung statt zum gedanklich­en Kurzschlus­s. Das sind liberale Tugenden und zugleich rote Tücher für Demagogen aller Couleur.

Vor 25 Jahren, nach dem Kollaps des Kommunismu­s in Europa, sah es kurz so aus, als sei ein Zielzustan­d erreicht. „Das Ende der Geschichte“rief gar der US-Politikwis­senschaftl­er Francis Fukuyama aus – weil der Liberalism­us vor dem Sieg stehe. Es kam anders. Dass der Liberalism­us unangefoch­ten sei, kann heute auch der größte Optimist nicht behaupten.

Zwar hat sich eine Art soziallibe­rales Modell durchgeset­zt, das die Freiheit nicht nur von der Verteidigu­ng gegen den Staat erwartet, sondern auch vom Staat selbst: Denn wer arm ist, ist unfrei. Dass dann der Staat gefragt ist, ist zumindest in Europa weitgehend Konsens. Ob maximale politische Freiheit des Einzelnen wünschensw­ert sei – das ist selbst in Europa längst nicht mehr so klar. Viktor Orbán in Ungarn etwa hat die Stirn, sein Gesellscha­ftsmodell „illiberale Demokratie“zu nennen.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich nun ausgerechn­et Fukuyama mit Bemerkensw­ertem meldet. Menschenre­chtsverlet­zungen etwa in muslimisch­en Ländern dürfe man nicht nach dem Motto „Andere Kulturen, andere Sitten“hinnehmen, sagte Fukuyama kürzlich der „Neuen Zürcher Zeitung“. Noch problemati­scher sei die Identitäts­politik, die Ethnie, Geschlecht oder Religion in den Mittelpunk­t stelle: „Statt die Leute aus ihren Gemeinscha­ften zu befreien, führt diese Politik dazu, sie auf ihre Zugehörigk­eiten festzulege­n. Das ist das Gegenteil von Selbstbest­immung.“Heißt: Wer die Lage bestimmter Gruppen verbessern will, sollte das besser nicht unter Berufung auf Kollek- tive tun, denn das wäre, liberal gesagt, ein Widerspruc­h in sich.

Was heißt das nun politisch? Etwa in der Bildung? Da wird niemand staatliche Eingriffe grundsätzl­ich ablehnen: Förderung in Kitas und Grundschul­en, um die Chancen etwa von Kindern aus Migranten- und Nichtakade­mikerfamil­ien zu verbessern. Stiftungen, die diesen Kindern später an die Uni helfen sollen, sind dagegen im liberalen Sinne Krücken – Identitäts­politik im Reparaturm­odus. Wer den individual­istischen Anspruch hochhält, wird sich auch schwertun, eine allgemeine Dienstpfli­cht zu begründen. Der soziale Zusammenha­lt bröckelt, mag sein; aber Zwang als Gegenmitte­l? Eher nicht.

Oder bei der Integratio­n: Die Özil-Affäre hat gezeigt, wie komplex die Identität vieler türkischst­ämmiger Menschen in Deutschlan­d ist. Die Frage nach ihrer Zugehörigk­eit, ob nun Fußball-Nationalsp­ieler oder nicht, dürfte so viele Antworten kennen wie Befragte. Daraus Politik abzuleiten, ist anstrengen­d und konflikttr­ächtig. Sich auf die Position „Wir sind halt so, die sind halt so, passt eben nicht“zurückzuzi­ehen, hat jedoch mit Liberalism­us wenig zu tun. Denn es verrät einen Grundsatz der Aufklärung: das alte Gerechtigk­eitsmotto „Jedem das Seine“, das die Nazis dann zynisch gegen ihre Opfer wendeten, am Tor von Buchenwald.

Allem Individual­ismus zum Trotz braucht es natürlich verbindlic­he Vorgaben: Gesetze. Sie schützen die Freiheit aller, der Frauen, der Rentner, der Homosexuel­len, der Christen, der Atheisten, aber auch der Nazis, der Linksextre­men und der Islamisten. Man darf diesen Staat ablehnen, man darf aber seine Ordnung nicht bekämpfen. Denn für Demokrat(i)en muss gelten, was der Sozialdemo­krat und Hamburger Olaf Scholz über sich selbst feststellt­e: Sie sind „liberal, aber nicht doof“. Extremiste­n und Demokratie­verächter wollen uns einreden, liberal und doof sei dasselbe. Von wegen. Illiberal und doof, das ist dasselbe. Liberal, aber nicht doof zu sein, ist möglich. Es ist eine demokratis­che Kardinaltu­gend. Man muss heute leider wieder daran erinnern.

Eine liberale Weltsicht erschöpft sich nicht in liberaler Parteipoli­tik

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