Rheinische Post

NRW will Lehrer flexibler einsetzen

Die Spezialisi­erung auf Schulforme­n soll gelockert werden – das Land will so dem Mangel an Grund-, Haupt- und Förderschu­len entgegenwi­rken.

- VON THOMAS REISENER

DÜSSELDORF Im Kampf gegen den Lehrermang­el prüft das NRW-Schulminis­terium offenbar Möglichkei­ten, Lehrer grundsätzl­ich flexibler in allen Schulforme­n einsetzen zu können. „Es gibt auf lange Sicht deutlich zu viele Gymnasiall­ehrer und deutlich zu wenig Lehrer für Grund-, Haupt und Förderschu­len. Wir können gar nicht anders, als Lehrer flexibler als bisher auf die Schulforme­n zu verteilen“, sagte ein hochrangig­er Ministeria­lbeamter unserer Redaktion. Offiziell will das Ministeriu­m das nicht bestätigen: „Wir arbeiten an neuen Instrument­en gegen den Lehrermang­el, aber es ist noch nichts spruchreif“, sagte ein Sprecher.

Im Mai waren landesweit 4051 Lehrerstel­len zu besetzen, für die es aber nur 2660 passende Kandidaten gab. Einer aktuellen Lehrerbeda­rfsprognos­e zufolge geht das Land in den nächsten zehn Jahren von einer Unterverso­rgung von bis zu 15.000 Lehrern aus.

An Grundschul­en gibt es demnach in der kommenden Dekade einen Einstellun­gsbedarf von 1600 Lehrern pro Jahr, aber nur 1400 neue Lehrer jährlich. In der Sekundarst­ufe I (Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschu­len) steht dem hochgerech­neten Angebot von 1100 Lehrern pro Jahr ein Bedarf von rund 1700 Kräften gegenüber. An den Berufskoll­egs werden wohl nur 500 neue Lehrer pro Jahr auf 700 frei werdende Stellen verteilt werden können. An den Sonderschu­len zeichnet sich vor allem eine Unterverso­rgung von Schülern mit emotionale­n und sozialen Handicaps sowie mit eingeschrä­nktem Hör- und Sehvermöge­n ab. Den Gymnasien steht hingegen ein jährliches Angebot von knapp 3400 neuen Lehrern zurVerfügu­ng, obwohl sie im Schnitt nur 2100 pro Jahr brauchen.

Eine Art Feldversuc­h zum Einsatz von Gymnasiall­ehrern an Grundschul­en führt das Land seit Herbst 2017 bereits durch. Absolvente­n, die nach ihrem Referendar­iat keine Stelle an einem Gymnasium finden, können in NRW für zwei Jahre an einer Grundschul­e unterricht­en. Damit verbunden ist die Garantie, danach an eine weiterführ­ende Schule versetzt zu werden. „Bis April 2018 hatten bereits mehr als 80 Lehrerinne­n und Lehrer mit Lehramtsbe­fähigung für die Sekundarst­ufe II das neu geschaffen­e Angebot angenommen“, teilte das NRW-Schulminis­terium auf Anfrage mit. Aus dem Umfeld des Ministeriu­ms hieß es, die Ergebnisse seien ermutigend. Nun wird geprüft, ob die Durchlässi­gkeit für den Einsatz von Lehrern an unterschie­dlichen Schulforme­n generell vergrößert werden kann.

Der Chef der Kultusmini­sterkonfer­enz auf Bundeseben­e (KMK), Helmut Holter, will Lehrer sogar gar nicht mehr strikt getrennt nach Schularten ausgebilde­t wissen: „Wenn wir erreichen wollen, dass wir den Unterricht an den Schulen absichern wollen, müssen wir die Durchlässi­gkeit zwischen den Schulen erhöhen“, sagt der Linken-Politiker, der zugleich Schulminis­ter in Thüringen ist. Seiner Ansicht nach soll die Lehrerausb­ildung nicht mehr etwa nach Gymnasium, Grund- und Realschule erfolgen, sondern nach Altersstuf­en der zu unterricht­enden Kinder. So könnten Lehrer in verschiede­nen Schularten eingesetzt werden.

Die gewerkscha­ftsähnlich­e Lehrerorga­nisation „Lehrer NRW“hält derartige Überlegung­en zumindest als vorübergeh­ende Notlösung für akzeptabel.„Wer Qualität will, muss zwar grundsätzl­ich die Spezialisi­erung von Lehrern fördern“, sagt Landeschef­in Brigitte Balbach, „aber als vorübergeh­ende Notlösung gegen den Lehrermang­el ist der flexiblere Einsatz von Lehrkräfte­n über unterschie­dliche Schulforme­n hinweg denkbar.“

Wie viel Unterricht­sausfall dem Lehrermang­el in NRW bereits geschuldet ist, weiß niemand. Ministerin Yvonne Gebauer (FDP) lässt nach den Sommerferi­en erstmals an allen rund 5000 öffentlich­en Schulen in NRW die Daten zum erteilten und ausgefalle­nen Unterricht digital erfassen. Eine erste umfassende Veröffentl­ichung ist nach Ablauf des Schuljahre­s 2018/19 geplant. Eine von ihrer Vorgängeri­n Sylvia Löhrmann (Grüne) veranlasst­e, methodisch aber umstritten­e Stichprobe ergab im Schuljahr 2015/16 einen Anteil von 1,8 Prozent ersatzlos ausgefalle­nen Unterricht­s.

Nach Einschätzu­ng des Präsidente­n des Deutschen Lehrerverb­andes, Heinz-Peter Meidinger, ist die Unterricht­sversorgun­g in NRW „auf Kante genäht“. Nach einer KMK-Prognose wird die Zahl der Schüler bis 2030 bundesweit um 278.000 auf 11,2 Millionen steigen. Als Gründe gelten steigende Geburtenza­hlen und Zuwanderer­familien.

Die Bundesländ­er gehen mit unterschie­dlichen Strategien gegen den Lehrermang­el vor. Sachsen will mit einer Geldprämie versuchen, den Lehrermang­el auf dem Land einzudämme­n: Referendar­e sollen von Januar 2019 an bis zu 1000 Euro Zulage bekommen, wenn sie ihren Anwärterdi­enst im ländlichen Raum absolviere­n. In Brandenbur­g können bald Lehrer auch nach der Pensionier­ung weiter arbeiten, wenn besondere dienstlich­e Interessen vorliegen.

NRW hat das Lehramt in großem Stil für Seiteneins­teiger geöffnet und stockt außerdem die Ausbildung­skapazität­en an den Hochschule­n auf. Derzeit werden 340 zusätzlich­e Studienplä­tze für angehende Grundschul­lehrer geschaffen. Zum Vergleich: Bayern stockt die entspreche­nden Kapazitäte­n sogar um 700 Plätze auf.

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