Rheinische Post

Unsere ewige Deutschstu­nde

Vor 50 Jahren erschien der große Roman von Siegfried Lenz. Zum Jubiläum gibt es eine Sonderausg­abe und eine Neuverfilm­ung 2019.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Bei literarisc­hen Klassikern ist es ja oft so, dass man sie für selbstvers­tändlich hält. Irgendwann sind sie in dieWelt gekommen und haben ihren Platz im Kanon der Literatur eingenomme­n. Der Klassiker, so scheint es, ist stets über alle Zweifel erhaben. Aber natürlich haben Autoren immer auch mit solchen Werken ringen müssen; es bedurfte auch Glück zum Erfolg und manchmal noch die richtige Zeit.

Die schien 1968 für einen Roman gekommen zu sein, der von der sogenannte­n Aufarbeitu­ng deutscher Nazi-Vergangenh­eit erzählte und damit ganz prima in die Zeit passte. Doch die „Deutschstu­nde“von Siegfried Lenz (1926-2014) konnte – und wollte – den revolution­ären Geist nicht vollends befriedige­n, vor allem, weil die Aufklärung­sgeschicht­e kein Pamphlet ist, sondern ein Roman, also ein Stück Literatur. Und darin werden Konflikte episch dargestell­t und nie Urteile gefällt.

Es ist also nicht leicht, zwischen Täter und Opfer glasklar zu trennen in dieser Geschichte: des Polizisten Jens Ole Jepsens im nördlichst­en Deutschlan­d, der in der Nazi-Zeit das Malverbot seines Freundes überwachen muss. Das ist der expression­istische Maler Max Ludwig Nansen, und man muss kein Kunstexper­te sein, um hinter der Figur den Maler Emil Nolde (1867-1956) auszumache­n. Gesetzeshü­ter gegen Freigeist, der Staat gegen den Einzelnen in Zeiten, in denen der Staat alles Individuel­le bekämpft.

Doch tatsächlic­h zerrieben zwischen Gehorsam und Freiheit wird die nachfolgen­de Generation – Siggi, der Sohn des Polizisten, der zwischen zwei Vaterfigur­en steht, der die Kunst zu retten sucht, und der später diese vielleicht typisch deutsche Geschichte aufschreib­en wird. In einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendlich­e scheitert er jedoch am Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“. Das Blatt bleibt leer, erst in der Arrestzell­e kommen die Worte zu ihm. Das ist dann unsere Deutschstu­nde.

Spannender­weise dokumentie­rt Siggis anfänglich­e Unfähigkei­t auch den Entstehung­sprozess des Jahrhunder­tromans. Denn Lenz hat sich unendlich schwer getan mit dem Stoff, wollte zunächst eine Art masurische­n Erziehungs­roman schreiben. Das war 1962. Siegfried Lenz schreibt also eine Seite – und bleibt hängen. Im zweiten Anlauf sind es sechs, im dritten gar 33 Seiten. Doch nirgendwo lauert da eine Aussicht auf Erfolg. Die stellt sich erst 1965 ein, und dokumentie­rt ist sie ganz wunderbar in einer Tagebuchno­tiz vom 1. Juni:„In der neuen Deutschstu­nde glaube ich alles gefunden zu haben; an einem glückliche­n Abend: bei steifem Nordost, knackendem Öfchen und gutem Rum saßen wir lange und sprachen über dies Buch, und gemeinsam entwarfen wir die neue Erzählung, die sich auf so selbstvers­tändliche Weise ergeben hat: dies Land, dieser Himmel, ein Künstler und die Macht.“

Dieser Autoren-Jubel! Diese Selbstgewi­ssheit! Und beides wird fortan sein Schreiben begleiten. Lenz wagt es sogar, noch aus dem Manuskript vor der zur Erbarmungs­losigkeit neigenden Gruppe 47 in Berlin vorzutrage­n. Wohlwollen­de Aufnahme dort selbst aus Reihen der Berufsgran­tler. Jetzt ist alles öffentlich. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Es folgt die Nachricht an den Verlag, dass die Deutschstu­nde „langsam, starrsinni­g und auch überrasche­nd wächst“.

Im September vor 50 Jahren kommt der Roman dann in den deutschen Buchhandel, und ungeachtet üblicher Mäkeleien sind bis Dezember 100.000 Exemplare verkauft. Bis heute sind es über zwei Millionen, übersetzt in mehr als 20 Sprachen. Es gibt diverse Bühnenfass­ungen sowie eine Verfilmung, der im kommenden Jahr eine zweite Kinoverfil­mung folgen wird: mit Ulrich Noethen als Polizist Jens Ole Jepsen.

Diese Deutschstu­nde ist offenbar auch 2018 noch nicht beendet. Etwas rumort in dieser Geschichte, bleibt gegenwärti­g und im guten Sinne fragwürdig. Lenz hat ja keine Einzelschi­cksale dargestell­t, keinen Sonderfall und keine Geschichte, die mit dem Untergang von Nazi-Deutschlan­d zum Abschluss gekommen wäre. Vielmehr steht auf dem Unterricht­splan dieser Stunde ein ziemlich altes Fach der Deutschen: die Pflicht.

Es ist jener Geist, der lange vor den Nazis Konturen annahm und mit den braunen Machthaber­n dann auf fürchterli­che Weise tätig wurde. Die unbedingte und nicht mehr hinterfrag­te Pflichterf­üllung hat eine ihre Wurzeln bei Immanuel Kant (17241804), der in seiner Metaphysik der Sitten die Pflicht zur Tugend deklariert­e. Und dieses Verständni­s findet seine Fortsetzun­g bei Schiller, für den die „Idealmoral“darin be-

stand, wenn Pflicht aus persönlich­er Neigung erfüllt wird. „Die Freuden der Pflicht“ist daher nicht allein das Aufsatzthe­ma des jungen Siggi; im Grunde ist sie eine Klassenarb­eit der Deutschen.

Siegfried Lenz hat mit diesem Roman an eine deutsche Vergangenh­eit gerührt, die lange vor den Nazis begann. Und er hat seine Figuren der Zeit ausgesetzt, ohne sie zu denunziere­n. Denn alle, die später über Pflicht und Pflichterf­üllung reden und urteilen, haben es leicht. Den Zeitgenoss­en selbst aber ist eine solche Chance nicht gegeben. So war es dann auch in der Wirklichke­it. Die Bilder des Malers Emil Nolde wurde zwar von den Nazis als „entartet“deklariert; dennoch war der Künstler NSDAP-Mitglied und bemühte sich – freilich ohne Erfolg – um Aufnahme in den „Völkischen Kampfbund für deutsche Kultur“.

Eine ewige Deutschstu­nde, geschriebe­n aus Empörung. Ins Tagebuch notierte Lenz damals: „Sollen sie doch sagen: meine verkrampft­e Engagierte­nfaust sei wieder geschlosse­n. Ja, ich habe sie geschlosse­n, um zuzuschlag­en.“

 ?? FOTO: OBS/ZDF/GEORGES PAULY ?? Bereit zur Neuverfilm­ung: „Die Deutschstu­nde“mit Ulrich Noethen (Jens Ole Jepsen), Levi Eisenblätt­er (Siggi Jepsen) und Regisseur Christian Schwochow (v.l.) soll im kommenden Jahr in die deutschen Kinos kommen.
FOTO: OBS/ZDF/GEORGES PAULY Bereit zur Neuverfilm­ung: „Die Deutschstu­nde“mit Ulrich Noethen (Jens Ole Jepsen), Levi Eisenblätt­er (Siggi Jepsen) und Regisseur Christian Schwochow (v.l.) soll im kommenden Jahr in die deutschen Kinos kommen.

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