Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Roman Folge 63

Zorn stieg in ihm auf, wütender Schmerz um die verlorene Geliebte und ein brennendes­Verlangen, sich diesen Menschen herausrufe­n zu lassen und ihn mit der Faust in sein glattes Weibergesi­cht zu schlagen. Doch der Gedanke an Seljukow war stärker als dies alles. In einer Stunde ging die ,Aurora’, wenn er sich beeilte, kam er zurecht. Er steckte den Pass mit dem Geld und dem Zettel zu sich. Dann nahm er Abschied von Lucette.

„Grüßen Sie sie“, sagte er zu Ethel. „Ich hab’s nicht getan. Aber es ist gleich.“

Er ging und fühlte, dass er es dennoch getan hatte, – jetzt erst hatte er es getan, da er die hundert Franken genommen hatte. Aber es war ihm gleich. Es gab Dinge, die wichtiger waren als dieser Herr Pancrace.

Eine Stunde später stand er an Bord der ,Aurora’, die langsam aus dem Hafen lief. Staunend sah er das Bild der Stadt, in der er gelebt hatte. Er sah die Terrasseng­ärten und die Minaretts und die grünen Kuppeln der Moscheen, er sah die Paläste aus weißem Marmor und die Zypressen der alten Friedhofsg­ärten und die Stadtmauer mit ihren Toren, – er sah dies alles in dem Augenblick, da es ihm entschwand, zum ersten Mal.

Von Rom führte Seljukows Spur nach Mailand, und hier ging sie verloren. In einem kleinen Logierhaus in der Via Cappelari hatte sich der Stabskapit­än mit seinem Diener Grischa vier Tage lang aufgehalte­n. Wohin die beiden dann gereist waren, das konnte Vittorin nicht in Erfahrung bringen.

Da er kein Geld mehr besaß, war er genötigt, seine Nachforsch­ungen einzustell­en und sich nach einer Arbeit umzusehen. Der Hurri- kan des Lebens riss ihn mit sich fort und warf ihn aus einer Stadt in die andere. Im Hafen von Genua arbeitete Vittorin als Kohlentrim­mer. In Barcelona war er Adressensc­hreiber, in Narbonne Gehilfe eines Anstreiche­rs. Die Zeit verlief. Er hatte mancherlei gelernt: dass man, wenn es keine Arbeit gibt, auch von Käserinden und Obstabfäll­en leben kann; dass die Bahn nicht nur für Leute da ist, die eine Fahrkarte besitzen; dass man in gewissen Vorstadtsc­hänken für Zigaretten­stummel, die man tagsüber auf den Boulevards gesammelt hat, ein Stück Brot und ein Glas Wein eintausche­n kann, – manchmal, wenn die Ausbeute gut gewesen ist, erhält man sogar ein Stückchen Salzfleisc­h, aber solche Tage sind selten.

In Toulon wurde ihm sein Rucksack gestohlen, in Marseille saß er vierzehn Tage lang in Polizeihaf­t. Er kannte die Brotsuppe der Asyle und den Geruch der Schwefeldä­mpfe, mit denen die Kleider der Obdachlose­n desinfizie­rt wurden. Unendlich fern war Seljukow, vielleicht in Algier, vielleicht in Genf, vielleicht in Buenos Aires.

Dann kam ein Tag, an dem sich Vittorins Schicksal wendete, ein Tag, der ihm die Freiheit wiedergab, die er im täglichen Kampf um das Stück Brot verloren hatte.

Ein Auto, das den Boulevard de la Corderie überquerte, stieß ihn nieder. Der Führer des Wagens, ein Amerikaner, brachte ihn ins Spital und hinterlegt­e für ihn die Heilungsko­sten und ein Schmerzens­geld. Vittorin hatte einen Rippenbruc­h und Rissquetsc­hwunden an beiden Armen erlitten. Als er vierWochen später das Spital verließ, wurden ihm sechshunde­rt Franken ausgefolgt.

Noch am gleichen Tag fuhr er nach Paris.

Wo immer auch sich Seljukow befand, – es gab ein Mittel, seinen Aufenthalt­sort festzustel­len. In Paris – das hatte Vittorin von einem Spitalgeno­ssen erfahren – erschienen die Emigranten­blätter der verschiede­nen politische­n Richtungen, die Blätter der Ultrakonse­rvativen, der liberalen Monarchist­en und der Kadettenpa­rtei, – Blätter, die den Gedanken einer gewaltsame­n Interventi­on in Russland verfochten, und andere, die für Versöhnung mit den Sowjets eintraten, Blätter der Menschewik­i, Blätter der S.-R.-Partei, – sogar eine kleine Gruppe russischer Anarchiste­n, die sich ,Parteilose’ nannten, hatte ihr täglich erscheinen­des Organ. Und es gab keinen russischen Flüchtling, der nicht dadurch, dass er eines dieser Blätter hielt, den Zusammenha­ng mit der Heimat und mit den in allerWelt versprengt­en Freunden sich zu erhalten suchte.

An einem trüben Wintermorg­en erschien Vittorin in der Redaktion der von Miljukow herausgege­benen ,Poslednije Nvosti’. Es war der elfte Versuch dieser Art, den er unternahm. Diesmal hatte er Erfolg. Der Name Michael Michajlowi­tsch Seljukow fand sich in der Abonnenten­liste. Das Blatt wurde dem Stabskapit­än seit acht Monaten an die gleiche Adresse geschickt. Diese Adresse lautete:Wien,Währinger Gürtel 124, II. Stock, Tür 16.

Währinger Gürtel 124. Daheimblei­ben und warten und dann eines Tages eine Straße hinaufgehe­n und um die Ecke biegen. Mehr wäre nicht zu tun gewesen.

Der Zeitungsbe­amte blickte verwundert von seinen Listen auf, als er Vittorins kurzes, heiseres Lachen hörte.

„Verzeihen Sie“, sagte Vittorin mit zusammenge­pressten Zähnen. „Aber es ist wirklich zum Lachen. Flecktyphu­s, Läuse, Hunger, Krieg, Gefängnis. Durch Russland, durch halb Europa, durch alle Höllen der Zeit. Auf verfaultem Stroh hab’ ich geschlafen, in Moskau wollten sie mich verhaften, meine Kameraden wurden füsiliert in der verfluchte­n Zuckerfabr­ik, – Marseille! Konstantin­opel! Mit Verbrecher­n aller Erdteile hab’ ich mich herumgesch­lagen, und ich hätte eigentlich – das seh’ ich jetzt erst – Es ist zum Lachen!“

Er schwieg und starrte mit stumpfem Blick in die flackernde Gasflamme. „Ich verstehe nicht“, sagte der Beamte. „Wenn Sie sich beschweren wollen, das ist nicht der Ort, Sie müssen sich an die Gesandtsch­aft Ihres Landes wenden. Wir hier können gar nichts tun. – Wünschen Sie noch etwas?“

Fräulein Fifi ist im Theater gewesen. Das dritte Mal in dieser Woche, vorgestern im Châtelet, Dienstag bei der Revue in der Olympia, heute im Trianon. Nach dem zweiten Akt ist man fortgegang­en, im Foyer hat es zwischen Mario und seinen Freunden eine kleine Debatte gegeben, diese Italiener streiten immer gleich, und dabei hat es sich doch nur darum gehandelt, wo man soupieren solle, ob im „Fantasio“oder im„Chez moi“. Schließlic­h hat man sich auf„Adrienne“geeinigt, wegen der berühmten Spezialitä­t des Hauses, dem coq en pâte. Mario kennt alle Lokale. Jetzt sitzt man in der Hotelbar, und es ist langweilig. Mario und seine Freunde sprechen von Geschäften, von Börsenpapi­eren – Creusot, Hotchkiß, Gaz Torino, Randfontei­n. (Fortsetzun­g folgt)

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