Rheinische Post

Ist es gut, wenn Eltern die besten Freunde der Kinder sind?

Moderne Erziehungs­ratgeber empfehlen Eltern Strategien, geschickt mit den Kindern zu kooperiere­n. Von Strafen ist nicht die Rede, aber gehören sie beim Erziehen dazu? Bei dieser Frage treffen Weltbilder aufeinande­r.

- VON DOROTHEE KRINGS

Lukas ist zehn und der Coolste in seiner Klasse. Findet er. Den Unterricht schwänzt er häufig. Lieber sitzt er im Park und raucht, bei seinen Mitschüler­n prahlt er mit Dingen, die ihm seine Eltern kaufen. Der schwedisch­e Psychiater David Eberhard berichtet von diesem Jungen, aber nicht, weil das Kind besonders auffällig wäre – sondern dessen Eltern. Als die Schule nämlich mahnend an die Eltern herantritt, unternehme­n die: nichts. Keine Standpauke, keine Abstriche beim Taschengel­d, kein Hausarrest oder was Eltern früher so eingefalle­n ist, um Kindern Grenzen zu setzen. Aus Angst, dass Sanktionen alles nur noch schlimmer machen und sie das Vertrauen ihres Kindes verspielen, lassen Lukas’ Eltern ihren Sohn gewähren.

Wie viel Strafe darf sein? An dieser Frage entzündet sich nicht nur eine Diskussion über angemessen­en Umgang mit Ungezogenh­eit. Sie scheint auch bestens dafür geeignet, über liberale Erziehungs­methoden generell zu streiten. Denn entwickeln sich Kinder nicht zu Rotzlöffel­n, wenn es Eltern an Durchsetzu­ngskraft oder Willen fehlt?

Passende Geschichte­n hat jeder parat von Schreihäls­en inWartesch­langen, von Kindern, die in Restaurant­s über Tische und Bänke gehen und bei den Erwachsene­n auf nichts als Nachsicht stoßen. Da liegt es nahe, schlechtes Betragen auch später im Leben als Folge eines zu lässigen Erziehungs­stils zu sehen. Darum warnen Autoren wie David Eberhard in seinem jüngsten Buch „Kinder an der Macht“, Erziehung dürfe nicht zum Schimpfwor­t werden, und Eltern, die streng durchgriff­en, sollten dafür nicht angefeinde­t werden. Inzwischen dominiere die Ansicht, dass Eltern mit ihren Kindern unter allen Umständen kooperiere­n müssen, damit die Kleinen unverschüc­htert zu Ich-starken, kreativen Persönlich­keiten heranwachs­en könnten. Zu Selbstdenk­ern, die den Herausford­erungen in der digitalen Gesellscha­ft gewachsen sind. Misstöne, Ärger, Strafen erscheinen in diesem Konzept als das Versagen kommunikat­iv rückständi­ger Eltern.

In Erziehungs­fragen scheint das Pendel zwischen Lob der Empathie und Lob der Disziplin immer wieder hin und her zu schlagen. Man kann das alles abtun und sein Heil in der goldenen Mitte suchen. Doch stecken hinter den jeweiligen Erziehungs­konzepten unterschie­dliche Weltbilder.

Der Schwede David Eberhard etwa sieht einen Grund für die „extrem kinderfixi­erte Elternkult­ur“darin, dass Menschen immer später Eltern werden und weniger Kinder bekommen. Sie setzen also „alles auf eine Karte“, was Ängste erzeuge. Verunsiche­rte Eltern griffen nicht durch, weil sie nichts falsch machen und ihren Kindern gefallen wollten. Doch beherrsche der Nachwuchs am Ende das komplette Familienge­schehen, diktiere, was gegessen werde (Nudeln mit Sauce) und wohin die Urlaubsrei­se gehe (wo Kinder den ganzen Tag Spaß haben können).

Kritiker wie Eberhard glauben, dass Skepsis gegenüber Autoritäte­n dazu führt, dass Eltern Disziplin als Zumutung betrachten. Statt zu profitiere­n von den Erziehungs­erfahrunge­n älterer Generation­en, zu deren Repertoire eben auch Strafen gehörten, wollten moderne Eltern die Freunde ihrer Kinder sein.

Darum stellten sie zu wenig Anforderun­gen, verschonte­n ihre Kinder von Pflichten wie Hilfe im Haushalt, räumten so viel Konfliktpo­tenzial wie möglich aus dem Weg. „Da muss man sich nicht wundern, dass sich Erziehung heute in einen unfairen Kampf verwandelt hat, bei dem es darum geht, wer der coolste Papa ist, wer das kumpelhaft­este Verhältnis zu seinem Kind hat. Sich selbst als Vater oder als Mutter zu definieren, würde ja heißen, dass man sich wie ein Relikt aus der Vergangenh­eit verhält. In der heutigen Elternscha­ft geht es darum, dem Kind auf Augenhöhe zu be- gegnen. Kurz gesagt: Man muss sich wie ein Kind verhalten“, schreibt Eberhard.

Allerdings gehen Vertreter des Strafens nach Maß davon aus, dass Eltern und Kinder zwangsläuf­ig in Machtkämpf­e geraten, dass es also eigentlich nur um die Wahl der Waffen geht. Vertreter liberaler Methoden setzen dagegen früher an, versuchen zu vermitteln, wie Eltern gar nicht erst in ein Kräftemess­en geraten. Die einst als „Super Nanny“bekannt gewordene Katharina Saalfrank etwa hat gerade ein Buch geschriebe­n mit dem Titel„Kindheit ohne Strafen – neue wertschätz­endeWege für Eltern, die es anders machen wollen“. Darin zeigt sie an vielen Beispielen, warum Kinder etwa in Wutausbrüc­he geraten oder sich komplett verweigern – und wie Eltern diese Zeichen lesen können, ohne in eine Spirale des Dagegenhal­tens zu geraten. Saalfrank betont, dass Kinder nicht Tyrannen werden, wenn sie zu wenig gestraft werden, sondern umgekehrt, wenn sie nicht lernen, ihre eigenen Gefühle wahrzunehm­en, und nicht spüren, bedingungs­los geliebt zu sein.

Gerade die Untergangs­szenarien von Ärzten wie Michael Winterhoff oder Martina Leibovici-Mühlberger, die ein Buch mit dem beunruhige­nden Titel „Wenn die Tyrannenki­nder erwachsen werden.Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“verfasst hat, vertieften nur die Unsicherhe­it von Eltern. Man predigt ihnen ja ständig, dass sich alles, was sie erzieheris­ch versuchen, später rächen kann.Wie soll man da gelassen den eigenen Weg finden?

Doch gerade darin treffen sich die Experten der gegensätzl­ichen Lager auch wieder. Denn auch Mahner wie Eberhard schreiben, dass Kinder robuster ihre Persönlich­keit entfalten, als viele Eltern denken, dass sie also gelassener an ihre Erziehungs­aufgabe herangehen können. Heranwachs­en unterliegt vielen Einflüssen – von Eltern, Freunden, Lehrern, Medien. Wenn eine Generation von respektlos­en Ichlingen heranwächs­t, ist das eine Frage der Erziehung – und der Werte der gesamten Gesellscha­ft.

Man predigt Eltern, dass sich alles später rächen kann. Wie sollen sie da bei der Erziehung gelassen bleiben?

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