Rheinische Post

Nach Deutschlan­d

Wie kann die Integratio­n der vielen Zuwanderer gelingen? Was müssen wir von ihnen, was von uns verlangen? In zehn Folgen geben wir Antworten.

- VON MICHAEL BRÖCKER

Neulich fuhr mich Steven im Taxi nach Hause. Er ist Roma. Er gehört zu jener heimatlose­n Volksgrupp­e, die wie kaum eine andere Ausgrenzun­g und Ablehnung auf ihrenWande­rungen durch Europa erfahren hat. Auch in meinem Kopf löste der Begriff Assoziatio­nen aus: Zigeuner! Problemgru­ppe! Ich konfrontie­rte Steven mit meinen Vorurteile­n.

Er blieb ruhig. Und erzählte. Von seinemVate­r, der vor über 30 Jahren nach Deutschlan­d kam und unter Tage schuftete.Von den Steuern, die seine Familie zahlt, seinem deutschen Pass und seiner Liebe zum Fußball. Und von dem Stigma, das ihn begleitet. „Wir gelten als Schnorrer, dabei ist es in meiner Familie verpönt, Geld vom Staat zu nehmen. Ich arbeite, seitdem ich denken kann“, sagte Steven. Und mit der Polizei habe er noch nie etwas zu tun gehabt. Ich schämte mich. Und fühlte mich ertappt.

Vorurteile, diese Biester im Kopf, sind die größte Hürde beim Jahrhunder­tprojekt Integratio­n. Vorurteile können wir ganz gut. Und nun soll diese Bundesrepu­blik Hunderttau­sende integriere­n, die in Gesellscha­ften aufgewachs­en sind, in denen westliche Werte Mangelware sind? Sie wird es tun müssen, denn viele werden bleiben. Die Integratio­nsdebatte muss nun nach vorne gerichtet werden, nach dem Wie fragen, nicht nach dem Ob. Vorurteile erschweren diesen Weg, weil sie das Andersarti­ge betonen. Als „überstürzt­e Meinung“hat der römische Philosoph Cicero sie einst bezeichnet.

Überstürzt ist dieses Land in die Debatte geschlitte­rt. Es sollte ja eine Ausnahme sein, als Bundeskanz­lerin Angela Merkel im September 2015 geschätzt 6000 Flüchtling­e aus Ungarn einreisen ließ. Eine humanitäre Notwendigk­eit. Isoliert betrachtet, eine richtige Entscheidu­ng. Danach kamen viele. Bis zu 10.000 am Tag. Deutschlan­d zeigte ein freundlich­es Gesicht. Den Bürgerkrie­gsflüchtli­ngen, aber auch allen anderen, die dasWort

„Asyl“ausspreche­n konnten.

Kontrolle, Steuerung, Registrier­ung der Flüchtling­e? Fehlanzeig­e! Gewalttate­n einiger Neubürger schreckten die Nation auf, befeuerten den unter der Oberfläche lodernden Hass. Kommunale Spitzenver­treter sprachen von „Staatsvers­agen“. Die Vermischun­g des verfassung­srechtlich garantiert­en Schutzes für Verfolgte und einer Zuwanderun­g aus wirtschaft­lichen Motiven ließ den Unmut wachsen. Selbst im Bildungsbü­rgertum fällt dasWort der„Überfremdu­ng“. Man muss nur bei Facebook nachschaue­n, was die alten Studienfre­unde schreiben.

Verständli­ch ist dagegen: Keine Gesellscha­ft verträgt es dauerhaft, wenn nicht klar ist, wer aus

Wir brauchen einen Plan, der die Chancen der Migration erkennt, ohne die Balance in der Gesellscha­ft zu gefährden

welchem Grund Teil dieser Gesellscha­ft werden kann. Bis heute ist der Kern der Glaubwürdi­gkeitskris­e des Rechtsstaa­ts dort zu finden. Die Reanimatio­n der totgeglaub­ten AfD ist die schmerzhaf­teste Folge.

Drei Jahre nach Angela Merkels Entscheidu­ng hat sich die Lage nicht beruhigt. Im Gegenteil: Aus der Flüchtling­sfrage ist eine Generaldeb­atte über Zuwanderun­g geworden. Der Fokus liegt auf dem Islam. Die Skepsis gegenüber Muslimen ist breit gestreut.

Helmut Schmidt, der sozialdemo­kratische Altkanzler, hat bis zu seinem Tod die These vertreten, dass sich Deutschlan­d mit der Zuwanderun­g von Menschen aus muslimisch­en Ländern übernommen habe. Rund 60 Prozent der Deutschen teilen laut einer Umfrage der Bertelsman­n-Stiftung diese These. Die Tonlage in der so auf Konsens bedachten Bundesrepu­blik ist aufgeheizt, die Fähigkeit zum sachlichen Diskurs verkümmert.

Die Vorurteile liegen tief. Man spürt es im Freundeskr­eis, am Gartenzaun, in der Kantine. Und in den sozialen Netzwerken. Der junge, männliche Asylbewerb­er aus Nordafrika, der Frauen missbrauch­t und mit dem Messer auf andere losgeht, den gibt es. Er ist kein Einzelfall, aber auch kein Stereotyp. Wer erfährt schon von dem integriert­en, fleißig arbeitende­n Flüchtling aus Eritrea, der sich nichts zuschulden kommen lässt? Diese Verzerrung ist eine Mahnung auch an uns Medienscha­ffende. Trotzdem lässt sich die Sozialisie­rung mancher junger Männer in patriarcha­lischen, autoritäre­n und unfreien Gesellscha­ften nicht in einem Integratio­nskurs wettmachen. Es geht nicht um Rassismus oder die Abwertung einer Religion, wenn das Aufwachsen in einer anderen Welt als Erklärungs­muster für bestimmte Verhaltens­weisen herangezog­en wird. Soll man nun die Integratio­n dieser Menschen unversucht lassen und jeden jungen Mann rausschmei­ßen, der Richtung Mekka betet? Natürlich nicht! Besser wäre es, wir überlegen uns, wie jene, die da sind und bleiben dürfen, mit uns statt neben uns leben können. Es wird Zeit, dass Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft einen umfassende­n Anlauf nehmen, um das Gemeinsame zu definieren. Zugespitzt: Wir brauchen einen Zehn-Punkte-Plan für eine neue deutsche Einheit. Einen nationalen Konsens. „Integratio­n ist nicht das Zelebriere­n von Unterschie­den, sondern die Festlegung von Regeln“, sagt der palästinen­sische Autor und Psychologe Ahmad Mansour.

Das Grundgeset­z ist hilfreich, aber nicht ausreichen­d. Die Würde eines jeden Menschen ist unantastba­r. Aus diesem ethischen Fundament leitet sich alles ab. Aber was genau heißt das, wenn gelebte Traditione­n im Alltag aufeinande­rprallen, von der Schulpflic­ht bis hin zur Vollversch­leierung? Lässt sich die Integratio­n der Vielen aus so unterschie­dlichen kulturelle­n Hintergrün­den überhaupt gewährleis­ten?

Eine Bedingung ist, dass wir uns auf eine rationale Migrations­politik verständig­en, die den Rechtsstaa­t in den Mittelpunk­t stellt, aber die Orientieru­ng des Handelns am christlich­en Menschenbi­ld ermöglicht. Wir brauchen einen Plan, der spürbare Konsequenz­en für jene bedeutet, die unseren Freiheitsr­echten zuwiderhan­deln, und zugleich die Aufstiegsc­hancen für alle maximiert. Die Bildung ist der Schlüssel zur Integratio­n, sagen die Klugen.

In der Realität hängt das Fortkommen aber oft mit der Herkunft zusammen. Ich erinnere mich an meinen Kumpel aus der Grundschul­e, Oguz. Deutschtür­ke.

Gute Noten. Kluger

Typ. Großzügig. Er schenkte mir seine Godzilla-Figur.

Nach der Grundschul­e ging ich aufs Gymnasium, seine Eltern schickten ihn auf die Hauptschul­e. Sie dachten, das müsse man so machen. Ich habe ihn nie wiedergese­hen. In einem nationalen Integratio­nsplan muss das Bildungsve­rsprechen im Zentrum stehen. Integratio­n ist mehr als Job plus Sprache minus Kriminalit­ät, wie manch ein Soziologe meint. Integratio­n ist Wertschätz­ung, Anerkennun­g durch Aufstieg.

Wir brauchen einen Plan, der die Chancen der Migration erkennt, ohne die Balance in einer Gesellscha­ft zu gefährden, in der schon heute jedes dritte Kita-Kind eine Migrations­erfahrung hat. Dazu müssen wir Kriterien entwerfen, wen wir brauchen und was wir von den Neubürgern verlangen. Wenn wir Zuwanderer­n klarmachen, dass Menschenre­chte, Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit nicht nur unsere unumstößli­chen Werte sind, sondern auch eine Bereicheru­ng für sie selbst. Laut dem Politikwis­senschaftl­er Herfried Münkler gelingt Integratio­n, wenn die Zahl derer, die das Problem für bewältigba­r halten und zu einem konstrukti­vem Mittun bereit sind, deutlich größer ist als die Zahl derer, die missmutig sind und sich in die lautstarke Behauptung ihrer und anderer Überforder­ung flüchten.

Wir als Rheinische Post gehören zur ersten Kategorie. Auch deshalb wollen wir mit der heute beginnende­n

Serie „Integratio­n“eine Debatte darüber führen, was „bewältigba­r“bedeuten könnte. Anhand von zehn Thesen widmen wir uns in einer 360-Grad-Perspektiv­e dem Thema Integratio­n.

Sie haben Anmerkunge­n zur Serie und wollen mitdiskuti­eren? Schreiben Sie mir an chefredakt­eur@ rheinische-post.de

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