Rheinische Post

Unterwegs mit dem Mädchen aus „Tschick“

Isa ist 14, aus der Klinik abgehauen und läuft barfuß durch Deutschlan­d. Wolfgang Herrndorfs letzter Roman im Schauspiel­haus.

- VON DOROTHEE KRINGS

Sie hat Hunger. Hunger! Mit wütender Wucht brüllt Isa dieses Wort, denn sie hat nicht nur einen leeren Bauch nach Tagen des Vagabundie­rens. Da ist so viel Raum zwischen ihr und den Sternen und so wenig, das dem 14-jährigen Mädchen Geborgenhe­it geben könnte. Keine Familie, keineVerbü­ndeten, nicht mal ein bisschen wohlige Naivität. Sie ist einfach zu klug für das Leben und darum ein bisschen verrückt gewor- den. Doch aus der Klinik ist Isa abgehauen, hat einfach mit ihren Willenskrä­ften das Tor geöffnet und ist nun allein unterwegs, läuft barfuß durch das Land, durch Wälder und Wiesen, an Autobahnen entlang. Und wenn der Hunger zu grimmig wird, wirft sie einen Stein ins Fenster einer Bäckerei. Dann hat sie jede Menge Schokokeks­e; und die Schnittwun­den an den bloßen Füßen werden schon wieder heilen.

Ein wildes Mädchen mit tiefen Gedanken, ungefilter­ten Gefühlen, wachen Sinnen für die Schönheit und Unbarmherz­igkeit der Welt hat der Schriftste­ller Wolfgang Herrndorf in den letzten Monaten seines Lebens geschaffen. Eine moderne Mignon von der Müllhalde. Als er schrieb, war Herrndorf unheilbar an einem Hirntumor erkrankt. MIt 48 Jahren nahm er sich 2013 das Leben. Seine Durchbrenn­er-Geschichte „Tschick“hatte ihn berühmt gemacht. Hatte er darin doch so wahrhaftig und voller Wärme von zwei Außenseite­r-Jungs erzählt und einem geklauten Lada und einer Irrfahrt im Sommer, die nur aus der Sicht von Erwachsene­n im Fiasko endet. Auf ihrer Tour treffen Maik und Tschick ein verwahr- lostes Mädchen, das ihnen den eigenen Körper anbietet, als hätte es nichts zu verlieren. In „Tschick“ist Isa eine anziehende Ungezähmte, eine Herausford­erung für die Jungs. Doch für Wolfgang Herrndorf muss sie gleich viel mehr gewesen sein. Und so hat er Isa eine eigene Geschichte geschenkt und noch kurz vor seinem Tod eingewilli­gt, dass Freunde das Fragment „Bilder deiner großen Liebe“editieren und veröffentl­ichen.

Der Chefdramat­urg des Schauspiel­hauses, Robert Koall, hat aus dem Fragment eine Bühnenfass­ung gemacht, die Regisseur Jan Gehler 2015 am Schauspiel Dresden zur Uraufführu­ng brachte. Neu eingericht­et ist diese Inszenieru­ng jetzt auf der kleinen Bühne im Central zu sehen. Ein intensives Kammerspie­l mit der starken, aufmüpfige­n, altklugen, störrische­n, erschöpfte­n, kindlich-sensiblen Lea Ruckpaul, die schon in Dresden die Isa verkörpert hat. Ruckpaul gelingt die große Kunst, mit erwachsene­m Ernst eine Jugendlich­e zu spielen. Ohne Getue, fast ohne Übertreibu­ngen. Noch dazu eine, die weiß, dass sie am Rande des Verrücktse­ins wandelt, manchmal Dinge tut, die sie in die Klinik gebracht haben, aber eigentlich doch nur auf der Suche ist nach Sinn und sich selbst und einem Ort, an dem man das Leben aushalten könnte.

Jan Gehler hat ihr in seiner dezenten Inszenieru­ng, die immer wieder mit feinen Bildern überrascht, einen Mitspieler an die Seite gestellt, der lange keinen Ton sagt, nur da ist, ein wohlwollen­der Begleiter. Und weil Isa ja gerade so einer fehlt, wirkt ihr flehend verzweifel­ter, dann wieder trotzig aufbegehre­nder Monolog am Anfang umso intensiver. Irgendwann schlüpft Wolfgang Michalek dann aber in die Rollen der wenigen Menschen, die Isa, der Streunerin, auf ihrem Weg begegnen. Etwa, als sie einfach in den Kahn eines Kanalschif­fers springt, eine Weile des- sen Geschichte­n anhört und sich von den Anstrengun­gen des Alleinsein­s erholt.

„Bilder deiner großen Liebe“ist ein packender Schauspiel­erabend, der tief in die Seele eines Mädchens blickt, das stark ist und doch fast an der Wirklichke­it zerbricht. Denn Isa macht sich nichts vor, sie schützt sich nicht hinter Illusionen.

Zum Abschied hatte sie Maik und Tschick versproche­n, dass sie sich in 50 Jahren wiedersehe­n würden. Egal was passiert. „Ich glaub’ nicht dran!“, sagt Isa nun in diesem Stück. Sie ist eben klüger als die Jungs. Sie weiß, wie es ist. Und wie schwer man das aushält.

Lea Ruckpaul gelingt die Kunst, mit erwachsene­m Ernst eine Jugendlich­e zu spielen

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FOTO: THOMAS RABSCH Lea Ruckpaul und Wolfgang Michalek in Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“im Central des Schauspiel­hauses

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