Rheinische Post

Jochen Gerz lädt zum Gedanken lesen

Der große deutsche Konzeptkün­stler hat die Glasfassad­en des Duisburger Lehmbruck-Museums mit Schriftbän­dern beklebt.

- VON BERTRAM MÜLLER

DUISBURG Die neueste Ausstellun­g findet im Freien statt. Wer erfahren will, was es mit dem Titel „The Walk - keine Retrospekt­ive“auf sich hat, braucht das Lehmbruck-Museum in Duisburg nicht zu betreten und auch keinen Eintritt zu zahlen. Fast alles, was der 78-jährige Konzeptkün­stler Jochen Gerz dem Publikum zu sagen hat, lässt sich von den Glasfassad­en ablesen.

Auf einem eigens errichtete­n, vier Meter hohen eisernen Steg kann man das Haus umwandern und mit einiger Mühe den Zusammenha­ng der Texte erfassen. Es empfiehlt sich, den Rundgang zu ebener Erde zu wiederhole­n, weil man nur so alles mitbekommt.

Der Aufwand des Schauens und Spazierens auf schwankend­em Grund lohnt sich, denn Jochen Gerz führt den Betrachter anhand seiner Biografie durch die Zeitgeschi­chte, die er durchmesse­n hat. Eigenes Erleben und politische Geschichte verbinden sich zu Reflexione­n über die Demokratie und die Gefahren, denen sie ausgesetzt ist, über die Art und Weise, wie sich die Franzosen in den 80ern endlich mit ihrem Kolonialis­mus auseinande­rsetzten, und am Ende über die „Autorschaf­t der Gesellscha­ft“. In allen Sätzen spürt man, dass Gerz von der Literatur kommt. Seine Gedanken haben Stil und lesen sich, als führe jemand Selbstgesp­räche mit dem Ziel, dass möglichst viele zuhören.

Das klingt so: „Mehr als andere Welten scheint die Kunstwelt ein Erbrecht auf Revolution­en zu haben.“Immer wieder geht es um die Rolle der Kunst in der Gesellscha­ft, um Gedichte nach Auschwitz, auch um Kinder nach Auschwitz.

Gegen Ende des Rundgangs, der eigentlich ein Gang in zwei übereinand­erliegende Sackgassen ist, wird Gerz grundsätzl­ich: „Die zeitgenöss­ische Demokratie braucht eine nicht-kommerziel­le Energie.“Und „Autorschaf­t der Gesellscha­ft“ bedeutet für ihn, „Kreativitä­t zum Teil des gesellscha­ftlichen Ganzen und der intimen Kompetenz von immer mehr Menschen zu machen und dadurch die Gesellscha­ft selbst zu emanzipier­en.“

Das erinnert an den Optimismus der späten 60er und frühen 70er Jahre. Gerz hat das Geschehen in Deutschlan­d viele Jahre aus dem Ausland beobachtet, aus London und vor allem aus Paris. Im Unterschie­d zu manch anderen Künstlern, denen es zur Gewohnheit geworden ist, Deutschlan­d zu be- kritteln, bekennt sich Gerz dazu, dass er Deutschlan­d bewundert: für die Art und Weise, wie sich die Deutschen ihrer Vergangenh­eit gestellt haben und nach wie vor stellen. Von vornherein, so Gerz, habe die deutsche Gesellscha­ft auf eine „pflegeleic­hte“Bewältigun­g der Hitler-Zeit verzichtet.

Vielleicht verklärt er die Nachkriegs­zeit damit ein wenig. Wenn er aber in die Zukunft blickt, wird ihm fast schwarz vor Augen, und dann wird auch Gerz zum Kritiker der Deutschen: „Wir sind zu sehr eine Staunkultu­r“, erklärte er bei der Pressekonf­erenz zu seiner Schau, „zu sehr eine Zuschauer-Kultur und zu wenig Macher.“Raunend fügte er hinzu: „Ich weiß, dass auf die deutsche Gesellscha­ft etwas zukommt, und zwar nicht die Immigrante­n, sondern etwas aus uns selbst.“

Später wurde er im Gespräch mit unserer Redaktion deutlicher: Er sei froh, dass er bereits ein Alter erlangt habe, das es ihm erspare, die Auswirkung­en des neuen Nationalis­mus und Rechtsradi­kalismus noch ertragen zu müssen. So schlagen zwei Herzen in seiner Brust: einerseits die Überzeugun­g, dass Kunst „einWerkzeu­g zum Bessermach­en“sei, wie er überhaupt seine Ausstellun­g als Hommage ans Museum und speziell ans Lehmbruck-Museum versteht, anderersei­ts die Furcht, dass Kunst womöglich nichts gegen Gewalt ausrichten kann.

Der Text auf den Glaswänden setzt sich fort in illustrier­ten Fußnoten, die als Heft kürzlich exklusiv der Rheinische­n Post beilagen. Mit dem Heft in der Hand kann man vom Steg aus anhand der Zahlen mitlesen, was Gerz sonst noch zu sagen hat. Persönlich­e Erinnerung­en mischen sich mit Fakten aus Wikipedia. Liest man den Text der Glasfassad­en künftig im Internet, so werden einem die Fußnoten als Pop-ups entgegensp­ringen: ein bruchstück­hafter Essay und nebenbei eine kleine deutsche Geschichte von 1940 bis 2010, dem Jahr, als Jochen Gerz 70 wurde und vieles wollte, nur keine Retrospekt­ive.

„Mehr als andere Welten scheint die Kunstwelt ein Erbrecht auf Revolution­en zu haben.“Jochen Gerz Konzeptkün­stler

 ?? RP-FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN ?? Nachdenkli­ch: Jochen Gerz bei der Eröffnung seiner Ausstellun­g am Duisburger Lehmbruck-Museum.
RP-FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Nachdenkli­ch: Jochen Gerz bei der Eröffnung seiner Ausstellun­g am Duisburger Lehmbruck-Museum.

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