Die politischen Historiker
ANALYSE Die gesellschaftliche Polarisierung in Deutschland ist schmerzhaft spürbar, nicht erst seit Chemnitz. Was hat das mit der Geschichtswissenschaft zu tun? Eine ganze Menge, wie der Historikertag in Münster gezeigt hat.
EgalwiemanzuWolfgangSchäuble steht – eins kann man ihm schwerlich vorwerfen: naiv zu sein. Rosarote Brillen zum Beispiel bei der Betrachtung der Integrationspolitik trägt dieser altgediente Konservative für gewöhnlich nicht. Umso bemerkenswerter ist es, was der Bundestagspräsident in seiner Festrede auf dem Historikertag diese Woche in Münster sagte, der unter dem Motto „Gespaltene Gesellschaften“stand. Eine homogene Gesellschaft gebe es nicht, beschied Schäuble sein Publikum: „Sie kann es nicht geben. Sie wäre wider die menschliche Natur.“
Unterstützung in Sachen Gelassenheit, wenn auch aus anderer Richtung, erhielt er von Eva Schlotheuber, Mittelalterhistorikerin an der Universität Düsseldorf undVorsitzende des ausrichtenden Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands. Schlotheuber will statt von zunehmender Fragmentierung der Gesellschaft lieber von Verdichtung sprechen: „Die Stimmenvielfalt ist durch die sozialen Medien hörbarer. Wir hören und wissen mehr, direkter und schneller voneinander.“Es gehe eher um die Wahrnehmbarkeit der Uneinigkeit und um den Umgang mit ihr als um ihr Ausmaß.
Aber Chemnitz? Köthen? Hetzjagd und Hitlergrüße auf offener Straße? Fortgesetzte Tabubrüche von ziemlich rechts und ganz rechts? Alles bekannt, nur lauter als früher, aber alles schlimmer schon mal dagewesen? Das wäre unzulässige, schönfärberische Vereinfachung. Dem Politiker Schäuble wie der Wissenschaftlerin Schlotheuber lag das fern. Wenn aber beide recht haben, drängt sich der Schluss auf: Die Aufgeregten haben unrecht. Diejenigen, die eine Gesellschaft anstreben, in der alle mehr oder weniger dieselbe Herkunft teilen und die zu diesem Zweck die Schotten dichtmacht. Und diejenigen, die bereits den neuen Faschismus vor der Tür stehen sehen. Man sieht schon: Für die großen Vereinfacher von links und rechts hatte der Historikertag wenig Erfreuliches zu bieten.
Auch wenn nicht alles bloßWiederholung ist – manche Entwicklungen kommen schon sehr bekannt daher: dass zum Beispiel eine religiöse Minderheit sich von der Mehrheit dominiert fühlt, sich deshalb den eigenen Traditionen zuwendet und sich selbst eine höhere Moral zuschreibt als dem großen Rest. Dass es zu erheblicher Irritation bei der Mehrheit führt, wenn es dieser Minderheit gelingt, einflussreiche Posten in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft zu besetzen. Dass sich ganze Landstriche abgehängt sehen von der rapiden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderung. Dass ein Teil der Bevölkerung den deutschen Staat in seiner vorliegenden Form ablehnt.
So war das nämlich mit den Katholiken im protestantischen Deutschen Kaiserreich, wie eine Diskussionsrunde in Münster eindrucksvoll darlegte. Der Vergleich mit den Muslimen in der Bundesrepublik wurde explizit angestellt, der mit der AfD blieb den Zuhörern überlassen. Veranstaltungen, die sich konkret mit dem Aufstieg des Populismus in Europa und den USA beschäftigten, gab es beim Historikertag kaum. Das liegt in der Natur der Sache; schließlich trafen sich hier nicht Soziologen oder Politikwissenschaftler. Wer wollte, konnte seine Zeit auch mit der Bürokratie der Päpste in der Frühen Neuzeit oder mit Herrschaftsstrategien im ptolemäischen Ägypten verbringen.
Öffentlichkeitswirksam aber war der Tenor, für den schon das glücklich gewählte Motto steht: Die deutschen Historiker haben einen Beitrag zu leisten zur Debatte darüber, was dieses Land zusammenhält. Möglicherweise sind sie dafür wichtiger als je zuvor, da alte Selbstverständlichkeiten, etwa die Deutungsmacht der Kirchen oder die Bindungskraft der Parteien, vor aller Augen erodieren und da bald keine Zeitzeu- gen der nationalsozialistischen Diktatur mehr leben werden.
Positionierungsscheu scheint jedenfalls keine ernsthafte Alternative zu sein. So betonte Holger Thünemann aus Köln, der Geschichtsunterricht müsse historische Werturteile entlarven, die etwa den Nationalsozialismus verharmlosen; die Auseinandersetzung mit Urteilen über die Geschichte sei ein „Beitrag zur Werteerziehung“. Und Christoph Rass aus Osnabrück beklagte, der Unterricht zum Thema Migration hinke der Wissenschaft hinterher: Noch immer sei der Migrant der Andere, der Ausländer, der „uns“Europäern entgegengesetzt werde. Schönen Gruß an die selbst ernannten Verteidiger des Abendlands.
Konkrete politische Lösungen lieferte Münster nicht. Kein Wunder, sind schließlich Historiker, scherzten die mit Selbstironie Gesegneten. Immerhin: Denkanstöße gab’s reichlich. Gideon Botsch aus Potsdam etwa plädierte für eine klare Einstufung der AfD als „rechtsextrem dominiert“; der radikale Nationalismus nutze die Agitation gegen Zuwanderung als Mittel, um eine viel weitergehende Grundposition zu verbreiten: die Ablehnung der repräsentativen Demokratie. Die „demokratische Mehrheit“könne ihre Sprachlosigkeit nur überwinden, wenn sie solche Motive und Strategien kenne.
Und in der Runde zu den Katholiken gab Marc Breuer aus Paderborn den Hinweis, durch ihre Arbeit habe die Caritas zur Auflösung der Frontstellung gegenüber den Protestanten beigetragen. Das war ein Verweis auf Bestrebungen islamischerVerbände, etwa Altenheime oder Kitas einzurichten. Breuer fügte freilich hinzu, die Caritas habe ihre Integration im 19. Jahrhundert nicht bewusst betrieben, sondern sich als Wohlfahrtsverband im Gegenteil scharf gegen die „Feinde“des katholischen Glaubens abgegrenzt.
Spalter, deren Arbeit am Ende die Gesellschaft befrieden half: ein echtes historisches Paradox, das auch eine Warnung ist, alles für steuerbar zu halten. Aber zugleich eins, das Optimismus erlaubt. So ist das mit der Geschichte.
„Eine homogene Gesellschaft kann es nicht geben. Sie wäre wider die menschliche Natur“Wolfgang Schäuble in seiner Festrede beim Historikertag