Feier der Körperbeherrschung
Das gefeierte Tanztück „Sutra“von Sidi Larbi Cherkaoui mit buddhistischen Mönchen ist beim Düsseldorf Festival zu erleben.
Schwarzes Tuch verhüllt die Bühne im Theaterzelt am Burgplatz. Das Licht wird abgeblendet, der Vorhang fällt zu Boden. Dann erhellt sich die Szenerie für „Sutra“, das Meisterwerk des Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui. Buddhistische Mönche des Shaolin-Tempels Henan touren damit seit zehn Jahren um die Welt. Zum zweiten Mal gastiert das kraftvolle Stück über Kampfkunst und Körperbeherrschung beim „Düsseldorf Festival“, das damit die eigene Regel gebrochen hat, jede Produktion nur einmal einzuladen. Aus einleuchtendem Grund. „Sutra“ist ein magisches Gesamtkunstwerk aus Tanz, Musik und visueller Inspiration.
Kisten aus rohem Holz, auf einer Seite geöffnet, nehmen den gesamten Raum ein. 19 Mönche entsteigen ihnen nacheinander und nutzen die Requisiten als Spielzeug für Aufbau, Zerstörung und Transformation. Sie stapeln sie hoch, kippen sie um, schieben sie hin und her. Sie krabbeln hinein und wieder heraus, verschanzen sich dahinter und türmen sie auf wie riesige Bauklötze.
Das einzigartige Ballett der Boxen begleiten die Mönche mit tollkühnen Sprüngen, geschmeidiger Akrobatik und lauten Schreien. Manchmal klettern sie auf das hölzerne Gebirge, balancieren an seinen Rändern, schwingen dabei Säbel, Stäbe und Dolche. Dann wieder legen sie still die Hände aneinander wie zum Gebet.
Der Spannungsbogen in „Sutra“erhöht sich durch einen gelenkigen kleinen Jungen, der mit unfassbarem Körpereinsatz überall gleichzeitig zu sein scheint. Er ist Grenzgänger undVerbindungsglied zwischen den chinesischen Mönchen und einem Außenseiter, getanzt von Ali Thabet. Weil er es den Kung Fu-Meistern gleichtun will, schlängelt er sich ebenfalls in eine Kiste. Anfangs noch unbeholfen, dann zunehmend versierter. Das Kind, kopfüber hängend, gesellt sich zu ihm.
Aber nicht immer ist klar, wer in diesem Spiel Freund oder Feind ist. Einmal drängen ihn die Mönche mit undurchdringlichen Gesichtern an den Abgrund. Gleich danach revanchiert er sich und nimmt ihnen den Raum auf ihrem Podest.Welche Geschichte da genau erzählt wird, bleibt vage und der Fantasie der Zuschauer überlassen. Aber man vermisst auch keine Aufklärung, gibt sich einfach hin und wird mit hinreißenden Bildern verwöhnt.
Einer der Höhepunkte: Die in schrägem Verlauf positionierten Kisten – in jeder ein Mönch – fallen so präzise um wie Dominosteine. Angeschubst hat sie der chinesische Junge, an dessen Bewegungen man sich kaum sattsehen kann. Gern wüsste man mehr über ihn. Bis zum furiosen Finale reißen die entfesselten Mönche das Publikum mit und werden unter großem Jubel verabschiedet.
Neben Dynamik und Körperbeherrschung glänzt in „Sutra“die soghafte Musik des polnischen Komponisten Szymon Brzoska. Sie entfaltet ihren eigenen Zauber, ist klagend und schluchzend, stürmisch und besänftigend. Brzoska übernimmt in Düsseldorf auch den virtuosen Klavierpart, die famosen Musiker an Cello, Violine und Percussion bleiben hinter der Bühne unsichtbar. Nach der Premiere am Samstag und zwei Vorstellungen gestern ist „Sutra“heute noch einmal am Burgplatz zu sehen.
Der Choreograf Sidi Lerbi Charkaoui kam 2007 bei einem Besuch des Shaolin-Tempels erstmals mit den Mönchen in Berührung. Fasziniert von ihrer Kampfkunst in Verbindung mit täglich praktizierter tiefer Meditation, ließ er sich zu seinem Stück inspirieren.
„Sutra“, vielfach preisgekrönt, wird seit 2008 auf allen Kontinenten aufgeführt und gefeiert. Die 19 Mönche haben dabei immer wieder gewechselt. Der Choreograf Sidi Lerbi Cherkaoui ist Flame mit marokkanischen Wurzeln. Seit 2015 leitet er das Königlich Flämische Ballett und gründete in seiner Heimatstadt Antwerpen die Company Eastman. Die Produktion „Sutra“entstand am Sadler´s Wells Theater in London, eine Wiege des kreativen modernen Tanzes.
Ein gelenkiger Junge erhöht mit vollem Körpereinsatz noch die Spannung des Stücks