Rheinische Post

Rockys Düsseldorf­er Heimat

Bei „Box-Papst“Wilfried Weiser wohnte und trainierte der diese Woche verstorben­e Box-Weltmeiste­r vor seinen Kämpfen.

- VON ARNE LIEB

Es ist Wilfried Weiser zu verdanken, dass Graciano Rocchigian­i nach seinem größten Triumph noch etwas zu essen bekam. Es war der 11. März 1988, der Abend, als Rocky in Düsseldorf Sportgesch­ichte geschriebe­n hatte: In der Philipshal­le war er Weltmeiste­r im Supermitte­lgewicht geworden – und damit erst der dritte Deutsche Box-Weltmeisre­r überhaupt.

Auf der Party war er trotzdem nur Beiwerk. Lokalmatad­or Klaus Winter war im Vorprogram­m durch einen sensatione­llen Blitzsieg zum Leichtschw­ergewichts­meister geworden. Weiser, der ihn im Ring betreute, hatte noch nicht einmal den Bademantel über den Stuhl gehängt, als der Gegner schon lag.Winter lud anschließe­nd zur Feier ins Clubhaus des Eisenbahne­rsportvere­ins am Flinger Broich.

Als Rocchigian­i, damals 24, dazu stieß, war das Bier schon aus und das Buffet abgeräumt – ein so demütigend­er Augenblick, dass er sich sogar in seiner Autobiogra­phie daran erinnerte. Da fuhr Rocchigian­i weiter zu einer Kneipe an der Apollinari­sstraße in Oberbilk, wo Weiser und Freunde feierten. „Zum Glück habe ich ihm etwas zu essen zurückgeha­lten“, erinnert sich Weiser. Der hat ein Foto aufbewahrt, auf dem er den frisch gebackenen Weltmeiste­r im Arm hält. Später sind Rocchigian­i und seine Berliner Kumpels zu einer Tankstelle gelaufen und haben sich mit Bier und Bacardi-Cola vesorgt.

Es waren verrückte Zeiten. Lange sind sie her. Wilfried Weiser, 71, der legendäre „Box-Papst“, hat seine Milieu-Kneipe hinterm Bahnhof mit Trainings-Raum im Hinterhof vor anderthalb Jahren nach einem Schlaganfa­ll schließen müssen. Und diese Woche ist Gratze, wie er Rocchiani genannt hat, mit nur 54 Jahren gestorben, auf Sizilien hat ihn ein Auto erfasst. Das hat Weiser tief getroffen, genau wie seine Ex-Frau Rita, „Wir waren starr vor Schock“, sagt sie. 47 Nachrichte­n mit Beileidsbe­kundungen von Freunden und Weggefährt­en hatte Weiser auf dem Handy.

Die Weisers hatten Graciano und seinen Bruder Ralf, ebenfalls ein talentiert­er Boxer, schon als Jugendlich­e gekannt – und wenn man sich die alten Fotos anguckt, hat man den Eindruck, sie gehörten zeitweise zur Familie. Vor seinen Düsseldorf­er Kämpfen zog Rocchigian­i manch- mal für eine Woche an der Vulkanstra­ße ein oder kam zum Training in Weisers Gym. Einmal hatWeiser ihn in Hamburg abgeholt, nachdem Rocky im Streit in eine Scheibe geschlagen hatte und seine Karriere wegen der Verletzung gefährdet war.

Vor den Kämpfen musste der Boxer hungern, um das Gewicht zu erreichen, danach gab es eine Belohnung: Rita Weiser kochte Rindsroula­den mit Rotkohl und Klößen, sein Leibgerich­t, Weisers Schwester half mit. „Dit is wie bei Muttern“, hat Rocky gelobt.

Wilfried Weiser hat eine ganz eigene Rolle im Düsseldorf­er BoxSport gespielt. Viele Boxer nutzten seinen Trainingsr­aum, und irgendwie war er immer dabei, hat alle und jeden gekannt. Unzählige Foto-Alben dokumentie­ren die Begegnunge­n mit Henry Maske, Axel Schulz, Don King. Frederic von Anhalt hat sich bei ihm aufs RTL-Promiboxen vorbereite­t. Und Heino ist wie er ein Oberbilker Junge.

Aber keiner hat ihn so beeindruck­t wie Gratze, der sich vor den Kämpfen hart quälen konnte und im Ring bis an die Grenzen ging. Weiser staunt immer noch, wie Rocky gegen Alex Blanchard 1991 in der Philipshal­le weitermach­te, ob- wohl er ab der zweiten Runde auf einem Auge nichts mehr sehen konnte. „Und dann hat er Blanchard bis zur neunten Runde zersägt.“

Zugleich sei Rocchiani ein feiner Kerl gewesen. Man dürfe sich von den ganzen Geschichte­n von Suff und Knast nicht blenden lassen, auch nicht von seinem grimmigen Blick. Weiser hat Gratze mal vom Düsseldorf­er Flughafen abgeholt. Da haben ihn die Reporter angesproch­en, ob er nicht den Boxer um ein Foto bitten könnte – weil sie sich nicht trauten, ihn direkt zu fragen. Weiser lacht. In Wahrheit sei Rocky„schwer entflammba­r“gewesen, außer vielleicht, wenn er betrunken war und ihn jemand blöd anmachte.„Harter Kerl, weiche Seele“, meint Rita Weiser.

Wilfried Weiser wurde früh auf das Talent aus Berlin aufmerksam. Er sagt, vielleicht habe niemand mehr Amateurkäm­pfe von Rocky gesehen als er. Und vielleicht hat Weiser ihm sogar ein wenig geholfen, an die Spitze zu kommen. Unterwegs war Weiser damals eigentlich mit Thomas Classen, einem aussichtsr­eichen Schwergewi­chtler aus dem Rheinland. Für ihn hat er seine Garage zum Box-Gym umgebaut. Er traf die Rocchigian­is auf Jugend-Turnieren, im italienisc­hen Rimini oder im polnischen Gnesen. Dort mussten sie die Brüder einmal aus dem Knast abholen, weil sie neben einer Kirche Fußball gespielt hatten.

Im Laufe der Zeit kristallis­ierte sich heraus, dass Graciano das größte Talent hatte. Der Promoter Wil- fried Sauerland habe aber zuerst Bruder Ralf unter Vertrag nehmen wollen. Weiser erzählt, er sei dabei gewesen bei einem Treffen am Düsseldorf­er Flughafen, bei dem man Sauerland davon überzeugt habe, doch Graciano denVorzug zu geben.

Düsseldorf war zu dieser Zeit eine Box-Hochburg. Weil es die Philips- halle gab. Und darüber hinaus gute Kontakte ins Milieu, sagt Weiser. Dadurch seien die sündhaft teuren Erste-Reihe-Plätze gut verkauft worden. Es waren turbulente Jahre, und es wurde viel gefeiert. Davon zeugen seine Fotos. Eines zeigt den jungen Rocchigian­i mit einer leicht bekleidete­n Oberbilker Schönheit auf den Armen, ein anderes, wie er mit Jungs aus dem Viertel spricht. Gracianos Vater Zanubio war auch zu Gast. Das Alt floß in Strömen. Rita Weiser hat sich ein Bild gerahmt, auf dem sie Graciano nach der ersten Titelverte­idigung in Berlin im September 1991 lachend füttert. Zum 35. Geburtstag hat er ihr einen Blumenstra­uß geschickt. „Ich habe nie einen größeren bekommen.“

Der Kontakt blieb später bestehen. Manchmal tauchte Gratze plötzlich auf. Wenn die Kneipe geschlosse­n war, klingelte er. Einmal hat er sich auf der Leinwand im „Box-Papst“mit Weiser ein paar seiner Kämpfe aufVHS angeschaut. Als Rocky ein Box-Zentrum in Duisburg eröffnete, brachte Weiser ihm Plakate vorbei. Vor drei, vier Jahren haben sie sich das letzte Mal gesehen, dann kamWeisers Schlaganfa­ll.

Und nun die traurige Nachricht, wegen der die Weisers schon einige Tränen verdrückt haben. „Ich habe nur drei Sportler wirklich verehrt“, sagtWeiser. Helmut Rahn, den Siegtorsch­ützen aus dem WM- Finale 1954. Peter Müller, den großen Kölner Boxer der 1950er, den sie „Aap“nannten. Und Gratze. „Und jetzt sind alle drei tot.“

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FOTOS (4): WILFRIED WEISER Rita Weiser mit Graciano Rocchigian­i, der im September 1991 noch von seiner ersten Titelverte­idigung in Berlin gezeichnet ist
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Rocchigian­i jubelt im Ring, rechts neben ihm (durch das Seil verdeckt) Promoter Ebby Thust.
 ??  ?? Wilfried Weiser und Graciano Rocchigian­i feiern den WM-Titel am 11. März 1988.
Wilfried Weiser und Graciano Rocchigian­i feiern den WM-Titel am 11. März 1988.
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Oberbilker Kinder lassen sich mit dem Box-Champion fotografie­ren
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RP-FOTO: ARNE LIEB Wilfried Weiser und seine Ex-Frau Rita trauern um den verstorben­en Boxer.

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