Rheinische Post

Protest ist auf der Straße am schönsten

Der Zuspruch bei der Großdemo am Hambacher Forst zeigt: Auch im digitalen Zeitalter wollen Menschen vor Ort für ihre politische Haltung eintreten. Die Aufmerksam­keit, die sie dadurch erreichen, gibt ihnen recht.

- VON DOROTHEE KRINGS

Die Demo ist zurück. Bürger versammeln sich wieder auf der Straße, um ihre Anliegen in die Öffentlich­keit zu tragen. Analog. Zu Fuß. Mit Pappschild­ern. Dabei war Politik für viele doch so lange etwas, das bequem an Profession­elle delegiert war oder in irgendwelc­hen Hinterstub­en praktizier­t wurde. Lass die anderen mal machen, hieß es im depolitisi­erten Deutschlan­d.Vielen schien es attraktive­r, ihre Meinung in den sozialen Netzwerken kundzutun – und aus der persönlich­en Blase direkt ein positives Echo zu bekommen, als sich mit lauter Unbekannte­n auf die Straße zu stellen.

Doch nun sind am Wochenende 250.000 Menschen in Berlin bei der „Unteilbar“-Demo für ein weltoffene­s Deutschlan­d rausgegang­en. Und am Wochenende zuvor waren es Zehntausen­de bei der Demo gegen Braunkohle am Hambacher Forst. Die Menschen vertrauen wieder darauf, dass sich durch öffentlich­es Auftreten ein Zeichen setzen lässt. Sie glauben, dass sie viele werden. Und dass ihr Anliegen so drängend ist, dass sich der persönlich­e Einsatz lohnt.

Aufgekomme­n ist diese neue Lust an der alten Protestfor­m wohl 2010, als aus dem Unmut über ein gigantisch­es Bahnhofsba­uprojekt der Massenprot­est gegen „Stuttgart 21“wurde. Plötzlich fand sich die Mitte der Gesellscha­ft auf der Straße wieder, Menschen unterschie­dlicher Herkunft und Generation verschafft­en sich durch den Schritt in den öffentlich­en Raum Aufmerksam­keit. Sie zwangen ihr Thema auf die politische Agenda.

Auch vorher hatte es Demos auf Deutschlan­ds Straßen gegeben, doch mit Stuttgart fand diese Protestfor­m breite bürgerlich­e Anwendung. Bücher erschienen wie„Mut Bürger“von Florian Kessler.Was antwortet man auf Die-Zusammenhä­nge-sind-doch-viel-komplexer-Einwände? Wie begegnet man Hilft-doch-eh-nix-Ausflüchte­n? Und wie nutzt man die sozialen Medien, um analogen Protest zu organisier­en? Das wurde darin erklärt. Die Zeit der Zyniker, die „Gutmensche­n“spießig und Demos „zu kalt“fanden, schien erst einmal vorbei. Seither erlebt der öffentlich­e Protest eine Wiederbele­bung in Etappen. Gerade wenn es um Themen geht, die über die Zukunft entscheide­n, um große Bauprojekt­e, Energie, Ernährung, Gesellscha­ft, treten Bürger in die Öffentlich­keit.

„Hautnahes Erleben kann Massen mobilisier­en“, sagt der Berliner Soziologe Dieter Rucht, doch könne auch abstrakte Betroffenh­eit Massenprot­este auslösen. In Berlin hat die Sorge vor einer Spaltung der Gesellscha­ft die Menschen bewegt. Das schöne Wetter mag zum Zuspruch bei„Unteilbar“beigetrage­n haben, doch vor allem war es wohl der Wunsch, vor der Wahl in Bayern der weltoffene­n Mitte der Gesellscha­ft eine Stimme zu geben.

Für Rucht zeigen auch die Demos für den Atomaussti­eg und nun für die Abkehr von der Kohle, wie sehr abstrakte Themen mobilisier­en. „Hinzu kam im Hambacher Forst die hohe Symbolkraf­t desWaldes und die Zähigkeit der Besetzer, die doch vielen Menschen Respekt abverlangt hat“, so Rucht. Auch das Gefühl, dass die profession­elle Politik ein wichtiges Thema komplett verschläft, kann Menschen auf die Straße treiben. „Es wird so viel über Flüchtling­e oder Wirtschaft­sthemen diskutiert“, sagte etwa ein Teilnehmer der Großdemo am Hambacher Forst, „ich habe eine ganz andere Prioritäte­nliste, da steht der Klimawande­l ganz oben, weil der unsere Zukunft wirklich existenzie­ll bedroht.“

Spannend ist, dass die Demo trotz zunehmende­r Digitalisi­erung des Alltags ein Revival erlebt. Die physische Präsenz auf der Straße scheint selbst gigantisch­e Unterschri­ftenzahlen bei Online-Petitionen in der öffentlich­en Wirkung auszustech­en. „Bei Online-Unterschri­ften haben viele Menschen das Gefühl, die Unterstütz­ung sei billig zu haben“, sagt Rucht,„darum beeindruck­t das viel weniger, als wenn es Organisato­ren gelingt, Zehntausen­de Menschen auf die Straße zu bringen.“

Womöglich ist es für Menschen, die sich ansonsten viel in der digitalen Welt bewegen, sogar ein zusätzlich­er Anreiz, bei Demos Gleichgesi­nnten real zu begegnen. Auch wenn man vielleicht hinter dem einen oder anderen Plakat hertrotten muss, das man selbst so nicht gepinselt hätte – das Erlebnis, leibhaftig auf Mitstreite­r zu treffen, mal wieder intensiv über Politik zu reden und das gute Gefühl zu teilen, für eine wichtige Sache einzutrete­n, begeistert wieder. Demo, das ist eben auch Politik als Event.

Natürlich hat die Digitalisi­erung das Protestier­en selbst verändert. Demonstran­ten können sich schneller vernetzen, Aktionen planen. Das Internet beschleuni­gt und flankiert den Protest, doch ganz ins Virtuelle verlagert hat er sich eben nicht. Die Straße ist ein Ort des lebendigen, öffentlich­en Diskurses geblieben.

Doch was ist mit den Wutbürgern? Auch Frust über die eigene Lebenslage, das Gefühl, von „denen da oben“nicht wahrgenomm­en zu werden, und allgemeine Unzufriede­nheit mit den Zumutungen von Demokratie treiben Menschen auf die Straße. Und manchmal eben auch Rassismus und blanker Hass.

Straßenpro­teste sind nicht per se ein Zeichen für eine vitale Demokratie, sie können auch Signale für deren Krise sein. Etwa wenn hetzerisch­e Symbole verwendet, agitatoris­che Auftritte toleriert, Minderheit­en verunglimp­ft und Beobachter von der Presse an ihrer Arbeit gehindert werden. Oder wenn Radikale wie beim G20-Gipfel in Hamburg einen Massenprot­est nutzen, um Schlachten mit der Polizei anzuzettel­n. Demo ist nicht gleich Demo, sie lassen sich unterschei­den – am Inhalt, aber auch in der Form.

Straßenpro­teste versammeln Menschen in großer Zahl, sind physisch, nicht abstrakt, und entwickeln ihre eigene Dynamik. Das ist Reiz und Gefahr zugleich und verschafft noch immer große Aufmerksam­keit – das höchste Gut im politische­n Prozess.

„Hautnahes Erleben kann Massen mobilisier­en“Dieter Rucht Soziologe

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KARIKATUR: KLAUS STUTTMANN

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