In der Schwebe
Die Kanzlerin tritt im Bundestag souverän auf, aber ihrer Regierungserklärung fehlt der Glanz. Das ist nicht neu, in Zeiten wie diesen aber heikel.
Die Kanzlerin macht gar nicht erst den Versuch einer Erklärung. Der komplizierte „Backstop“passt nicht in eine 20-minütige Rede, auch wenn ihr Vortrag Regierungserklärung heißt und dazu gedacht ist, den Abgeordneten ihre Haltung zum EU-Gipfel und zu den Brexit-Verhandlungen in den nächsten Stunden zu erläutern. Es geht um die Frage, wie sich nach dem Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union Schlagbäume an der künftigen EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland verhindern lassen. Die EU fordert eine Schutzklausel („Backstop“) im Austrittsvertrag, nach der Nordirland zunächst Teil der Zollunion mit der EU bliebe. London will die Grenzfrage aber möglichst im Rahmen einer dauerhaften Wirtschaftspartnerschaft lösen. Das ist der heikelste Punkt, der noch gelöst werden muss. Angela Merkel sagt am Mittwoch aber nur, der zentrale Durchbruch sei noch nicht gelungen, die Tücke liege sehr im Detail, „das Schwierigste kommt zum Schluss“.
Das gilt inzwischen auch für ihre Karriere. Seit der Bundestagswahl im vorigen Jahr, die sie zwar gewonnen, aber bei der sie hohe Verluste eingefahren hat, ist die CDU-Vorsitzende angezählt. Einen solchen Missmut in der Partei und gar Misstrauen wie jetzt hat sie vielleicht in ihren Anfängen an der Parteispitze vor mehr als 18 Jahren erlebt, als viele Männer in der Union in ihr nur eine Übergangslösung sahen. Aber in ihren ersten drei Legislaturperioden als Bundeskanzlerin seit 2005 galt sie in der Union als das, was in ihren Augen jede mühselig ausgetüftelte Regierungsentscheidung war: alternativlos. Jedenfalls bis zur Flüchtlingskrise 2015. Danach begann die Veränderung, der innerparteiliche Druck auf die Chefin wuchs, und in ihrer vierten Amtszeit als Kanzlerin hat sich das enorm verschärft. Ihre Machtbasis bröckelt. Wenn sie bis 2021 durchhält, hat sie wie Helmut Kohl 16 Jahre durchregiert. Aber derzeit steht das infrage.
Die Sonne scheint auch in diesem Herbst noch warm und grell durch die Kuppel des Reichstagsgebäudes, so dass sie wie ein Scheinwerferlicht auf Merkels Gesicht wirkt, während diese am Rednerpult steht und ihr Manuskript abliest. Nur einmal lässt sie aufblitzen, womit sie im kleinen Kreis immer wieder die Leute begeistert: mit ihrem trockenen Humor. Ganz nüchtern plädiert sie mit Blick auf die Europawahl im nächsten Jahr für finanzielle Sanktionen gegen Parteien, die mit ihren Kampagnen Desinformation betreiben. „Wer sich nicht an die demokratischen Spielregeln Europas hält, kann nicht erwarten, von der EU Parteienfinanzierung zu erhalten. Auch das ist wehrhafte Demokratie.“Das Rumoren auf den Bänken der AfD quittiert sie mit einem Unschuldsblick in diese Richtung und sagt: „Fühlt sich da jemand angesprochen?“Der Applaus der anderen ist ihr sicher. Es ist einer der seltenen Momente, dass Merkel überhaupt auf die AfD eingeht.
Sie warnt davor, dass es einen Brexit ohne ein Abkommen geben könnte. Sie appelliert an den Zusammenhalt der Europäischen Union, an die Solidarität mit afrikanischen Staaten in der Flücht- lingspolitik und legt sich wieder mit allen an, die auf nationale Alleingänge setzen. Sie tritt souverän auf, wirkt aber doch glanzlos. Man hat solche Reden von ihr schon so oft gehört. Und natürlich bleibt sie sich treu und verliert in einer solchen Regierungserklärung keine Silbe zum schlechten Abschneiden der CSU bei der Landtagswahl in Bayern. Merkel ist gedanklich schon in Brüssel, und der eine dürre Satz von Montag muss reichen: Ihre Lehre aus der Wahl sei, als Kanzlerin mehr dafür zu sorgen, Resultate der Bundesregierung sichtbar zu machen und Vertrauen in die politischen Akteure zu stärken.
Wie sehr die Union nach neuem Stil, neuem Schwung lechzt, erkennt man an der Rede des neuen Unionsfraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus. Er hat nichts Schriftliches vorbereitet und fängt seine Rede einfach mit dem Appell an, dass man sich über Europa freuen solle. Stöhnen im Saal. Aber als er an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnert und Europa erstens, zweitens und drittens als Friedensprojekt bezeichnet, sind sie in den Unionsreihen wieder wach. Sie klatschen sehr viel länger als bei ihrer Kanzlerin. Dabei hat Brinkhaus inhaltlich nicht mehr geboten.
Nervosität ist Merkel nicht anzumerken. Sie ruht offensichtlich trotz allem in sich. Es sind aber nur noch eineinhalb Wochen, bis ihre Welt wieder mehr von der Lage der Partei als von der EU bestimmt sein dürfte. Verliert die CDU bei der Landtagswahl in Hessen die Macht, wird es für die Union ein Ventil geben müssen. Merkel will im Dezember wieder Parteichefin werden. Bisher ist gegen sie noch nie jemand angetreten. Jetzt gibt es schon drei Gegenkandidaten. Es könnten mehr werden. Einen „Backstop“, eine Schutzklausel, gibt es für Merkel nicht mehr.