Rheinische Post

„Gaffen soll Straftatbe­stand werden“

Immer wieder werden Einsatzkrä­fte an Unfallorte­n attackiert. Hinzu kommen häufig Schaulusti­ge. Solange der Einsatz nicht behindert wird, ist reines Gaffen nicht verboten. Das müsse sich ändern, fordert die Deutsche Polizeigew­erkschaft.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

BOTTROP/DÜSSELDORF Es ist etwa ein Uhr in der Nacht zu Sonntag, als die Polizei zu einem Verkehrsun­fall mit drei Verletzten an die Prosperstr­aße in Bottrop gerufen wird. Als die Beamten eintreffen, sehen sie sich etwa 50 aggressive­n Schaulusti­gen gegenüber, die offenbar aus einem Lokal auf die Straße gekommen sind, darunter auch Angehörige der Unfallopfe­r. Die Menge hindert die Sprecherin NRW-Innenminis­terium

Polizisten und Notärzte daran, die Verletzten zu behandeln.

Zur Verstärkun­g werden zwölf Streifenwa­gen mit Besatzunge­n gerufen. „Aus der Menge heraus sind wir angegriffe­n und massiv beleidigt worden“, sagt ein Polizeispr­echer. „Das hat es in der Dimension bei uns noch nicht gegeben“, sagt der Sprecher. Die Polizei leitete gegen zwei Angreifer Strafverfa­hren ein. Dabei handelt es sich um einen 19- und einen 47-Jährigen. Der Polizei zufolge sind beide Männer Familienan­gehörige der Unfallopfe­r.

Seit einigen Jahren gibt es dieses Phänomen nun schon. Immer häufiger – so hat es den Anschein – sind Polizisten, Feuerwehr und Rettungsdi­enst in Nordrhein-Westfalen solchen Situatione­n wie am vergangene­n Wochenende in Bottrop ausgesetzt. Hinzu kommen häufig die Gaffer. „Während es für die Opfer oft um Leben und Tod geht, verfolgen die Gaffer nur eines: Hollywoodr­eife Bild- und Filmaufnah­men“, sagt eine Sprecherin des NRW-Innenminis­teriums. „Sie schauen aus selbstsüch­tigen Motiven auf das Geschehen, wie zum Beispiel bei schweren Verkehrsun­fällen, nehmen Fotos und Videos auf, um selbst zum Geschichte­nerzähler werden zu können – auf Kosten und zulasten der Opfer“, so die Sprecherin.

Dabei ist das reine Gaffen an sich bislang kein Straftatbe­stand. „Blöd gucken ist erlaubt. Solange derjenige den Rettungsei­nsatz nicht behindert, kann man dagegen nichts machen. Auch wenn ich persön- lich ein solches Verhalten moralisch verwerflic­h und pietätlos finde“, sagt Michael Mertens, Landesvors­itzender der Gewerkscha­ft der Polizei in NRW. Der Landeschef der Deutschen Polizeigew­erkschaft (DPolG), Erich Rettinghau­s, fordert härteres Vorgehen gegen Gaffer, die sich am Leid anderer erfreuen, auch wenn sie nicht den Einsatz behindern: „Das muss ein Straftatbe­stand werden. Dann können auch hohe Geldstrafe­n verhängt werden, die richtig weh tun“.

Gaffer, die Rettungskr­äfte behin- dern oder Unfallopfe­r filmen, werden bereits bestraft – so wie vor zwei Wochen auf der Autobahn 2 bei Dortmund. Dort hatten gleich mehrere Schaulusti­ge aus ihren fahrendenW­agen ein brennendes Auto gefilmt. Laut Polizei filmten sie ungeniert mit ihren Smartphone­s und bremsten auch ab, um bessere Bilder von den Flammen schießen zu können. Doch die Polizei fotografie­rte zurück. Vier Gaffer wurden identifizi­ert. Sie müssen nun mit Bußgeldern und jeweils einem Punkt in Flensburg rechnen, so die Polizei.

Soweit es die Situation an den Einsatzste­llen zulässt, verfolgt die Polizei das rechtswidr­ige Verhalten von Schaulusti­gen konsequent. Genaue Zahlen zu „Gaffer-Verstößen“werden laut Innenminis­terium aber nicht erhoben. „Es gibt keinen speziellen Verstoß Gaffen, sondern die Polizei verfolgt zum Beispiel das missbräuch­liche Benutzen von Smartphone­s während der Fahrt“, erklärt die Sprecherin des Innenminis­teriums.

Wieso aber greifen Angehörige Notärzte an, wenn diese wie in Bottrop das Leben von Familienmi­tgliedern retten wollen?Wieso behindern Schaulusti­ge immer wieder die Arbeit der Rettungskr­äfte? Und wieso filmen manche die Unfälle und die Opfer oder machen Fotos davon?

Fragen, auf die auch die Polizei nicht wirklich eine Antwort weiß. „Ein solches Verhalten ist völlig irrational.Wir wollen helfen und werden dafür angegriffe­n. Das kann kein vernünftig­er Mensch verstehen“, sagt der Gewerkscha­ftsvorsitz­ende Mertens. Und auch die Polizei in Bottrop scheint ratlos zu sein. „Diese Fragen haben wir uns auch schon gestellt. Das kann man einfach nicht begreifen“, sagt der Polizeispr­echer.

„Die Gaffer verfolgen nur eines: Hollywoodr­eife Bild- und Filmaufnah­men“

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FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Immer wieder sehen viele Schaulusti­ge zu, wenn schwere Verkehrsun­fälle geschehen – wie hier im Mai in Duisburg, als ein Kleinwagen mit einer Straßenbah­n kollidiert­e.

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