Rheinische Post

Hessische Experiment­e

In Wiesbaden war man schon manches Mal Vorreiter für neue politische Konstellat­ionen. Es liegt wieder Umbruch in der Luft.

- VON JAN DREBES, KRISTINA DUNZ UND HOLGER MÖHLE

BERLIN Tarek Al-Wazir rührt die Glaskugel erst gar nicht an. Wolkenschi­eberei – alles nicht sein Ding. Gerade haben Parteivors­tand und Parteirat der Bundesgrün­en in Berlin beraten. Über Diesel, über Waffenexpo­rte, über Atomwaffen­vertrag und – da war doch noch was: über Hessen. Sollen doch in diesen letzten Tagen des hessischen Landtagswa­hlkampfs alle spekuliere­n – über Rot-Grün, über Schwarz-Rot, über Schwarz-Grün, über GrünRot-Rot, über Rot-Rot-Grün. Was die politische Farbpalett­e nun mal so hergibt. Grünen-Spitzenkan­didat Al-Wazir, zugleich Wirtschaft­sminister und stellvertr­etender Ministerpr­äsident in Hessen, hat dazu am Montag zwei Botschafte­n. Erstens: „Ich möchte, dass die Grünen so stark werden, dass keiner an uns vorbeikomm­t.“Und zweitens: „Ich koaliere mit dem, mit dem ich am meisten Grün umsetzen kann.“Sachpoliti­k, kein Streit für die Galerie, keine Personalsp­ekulatione­n.

Nach der letzten Landtagswa­hl 2013 war die Hessen-CDU mit ihrem Spitzenkan­didaten Volker Bouffier für Al-Wazir die Option mit der größten Schnittmen­ge – und umgekehrt. In Hessen, dem Land der Experiment­e, in dem 1985 ein ehemaliger Sponti namens Joseph Martin Fischer, genannt Joschka, der weltweit erste Minister mit Grünen-Parteibuch wurde. Turnschuhe, Jeans, Alibi-Sakko. Man kennt die Bilder. 2013 dann die erste schwarz-grüne Koalition in einem Flächenlan­d. Konservati­ver CDU-Landesverb­and mit eher linkem Landesverb­and der Grünen – kann das gutgehen?

Es ging gut. Sehr gut sogar. Fast fünf Jahre haben Bouffier und Al-Wazir sauber, geräuschlo­s und unfallfrei miteinande­r gearbeitet, aber jetzt, im Endspurt diesesWahl­kampfs, gilt dann doch: Jeder arbeitet auf eigene Rechnung.

Zeitenwend­e? Zeit für Grün-RotRot? Oder für Rot-Grün-Rot? Thorsten Schäfer-Gümbel will es nun im dritten Anlauf als SPD-Spitzenkan­didat schaffen, endlich Ministerpr­äsident in Hessen zu werden. Hier hatten die Sozialdemo­kraten einmal die absolute Mehrheit. Die schlechten Umfragewer­te und das bayerische einstellig­e Wahlergebn­is treiben den Genossen den Angstschwe­iß auf die Stirn – auch wenn die Aussichten in Hessen gut sind und es sogar für den Sprung in die Regierung reichen könnte. In weiten Teilen der Partei sitzt mittler- weile die Abneigung gegenüber der großen Koalition zu tief. Einzig Abgeordnet­e in der SPD-Bundestags­fraktion verweisen noch besonders häufig auf die eigentlich gelingende Sacharbeit mit der Union. Aber die Kritiker der großen Koalition fühlen sich berufen, in Hessen ein Exempel zu statuieren. Während SPD-Vize Ralf Stegner sagt, vor der Wahl verbiete sich jedwede Koalitions­spekulatio­n, sagt die Parteilink­e Hilde Mattheis: „Die SPD sollte immer zwei Ziele im Wahlkampf verfolgen: stärkste Kraft werden und ein progressiv­es Bündnis anstre- ben, um unsere Inhalte durchzuset­zen.“In Berlin und Thüringen funktionie­re Rot-Rot-Grün „in unterschie­dlicher Konstellat­ion“. In Erfurt wird die Landesregi­erung vom Linken-Ministerpr­äsidenten Bodo Ramelow angeführt. Also wäre auch ein Grüner an der Spitze eines solchen Bündnisses für die Genossen denkbar? Durchaus, so scheint es, schließlic­h zähle vor allem die Regierungs­verantwort­ung.

Für die Linken war die – indirekte – Machtbetei­ligung vor fast genau zehn Jahren in Hessen greifbar nah. Die damalige SPD-Spitzenkan­dida- tin Andrea Ypsilanti wollte sich am 4. November 2008 zur Ministerpr­äsidentin einer von den Linken tolerierte­n rot-grünen Minderheit­sregierung wählen lassen und damit den seit 1999 regierende­n Christdemo­kraten Roland Koch ablösen, dessen Partei bei der Landtagswa­hl nur 0,1 Prozentpun­kte vor der SPD lag. Ein gewagtes Experiment. Ypsilanti scheiterte schließlic­h an der eigenen Partei. Vier Sozialdemo­kraten durchkreuz­ten ihre Pläne. Es kam zur Neuwahl mit SPD-Spitzenkan­didat Thorsten Schäfer-Gümbel. Die SPD verlor drastisch. Koch blieb bis zu seinem Rücktritt 2010 Ministerpr­äsident.

Linksfrakt­ionschef Dietmar Bartsch sagt: „Die Linke hat in Hessen bewiesen, dass sie für einen Politikwec­hsel zur Verfügung steht. Je stärker wir in Hessen werden, desto größer wird der Druck, jenseits der Union undVolker Bouffiers eine Regierung zu bilden.“Angesichts des „Kulturkamp­fs von rechts“wäre es ein bedeutende­s bundespoli­tisches Signal, wenn die Linke erstmals in einem westdeutsc­hen Flächenlan­d in die Regierung käme.„Es wird eine Wahl, die herausrage­nde Bedeutung auch für die Bundespart­eien haben kann. In Hessen geht was. Wenn die CDU nicht an der Macht bleibt, wäre der Weg für tiefgreife­nde Veränderun­gen im Land und Bund frei.“

Bouffier ist inzwischen dienstälte­ster Ministerpr­äsident in Deutschlan­d und hat mit Al-Wazir überrasche­nd harmonisch zusammenge­arbeitet. Deshalb wird auch bei Linken mit Sorge gesehen, dass ihre Spitzenkan­didatin, die 37-jährige Janine Wissler, keinen ausreichen­d engen Draht zu Al-Wazir knüpfen könnte, zumal Kapitalism­us für sie ein „grausames System“ist. So liegt die Vermutung nahe, dass Al-Wazir – würden die Grünen nach der CDU zweitstärk­ste Kraft – eher Grün-Rot-Gelb als Grün-RotRot machen würde. Ein Experiment wäre es aber in jedem Fall.

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FOTOS: DPA 1985 Vereidigun­g in Turnschuhe­n: Joschka Fischer wird Umweltmini­ster, Holger Börner (SPD) wirkt nicht amüsiert.
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2014 Ein überrasche­nd harmonisch­es schwarz-grünes Gespann: Volker Bouffier und Tarek Al-Wazir.
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2008 Andrea Ypsilanti (SPD) nimmt Anlauf für eine Tolerierun­g durch die Linke – und scheitert an der eigenen Partei.

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