Gleichgewicht des Misstrauens
Die USA wollen den INF-Abrüstungsvertrag kündigen. Umstritten war er längst – auch weil sich die Welt seit 1987 rapide verändert hat.
WASHINGTON/MOSKAU Der nationale Sicherheitsbeauftragte der USA, John Bolton, ist am Wochenende in Moskau eingetroffen. Er soll der russischen Seite vermitteln, dass Donald Trump aus dem vor 30 Jahren geschlossenen Vertrag für nukleare Mittelstreckenwaffen aussteigen wird. Am Dienstag soll es auch ein Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geben. Außerdem war eine Zusammenkunft mit Außenminister Sergej Lawrow vorgesehen.
Der stellvertretende russische Außenminister Sergei Rjabkow erwartete von Bolton eine „Klarstellung der genauen Haltung“, die Präsident Trump mit demVertrag über Mittelstreckenwaffen (INF) verbindet. Im Vorfeld hatte der Minister von einem „sehr gefährlichen“Schritt und von „militärisch-technischer Vergeltung“gesprochen.
Der INF-Vertrag war 1987 zwischen dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan unterzeichnet worden. Das Abkommen sah vor, dass die USA und Russland keine bodengestützten Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite zwischen 500 Kilometern und 5500 Kilometern besitzen dürfen. Es war der erste Vertrag, der eine ganze Klasse von Raketen verbot.
Beide Seiten warfen sich in den vergangenen Jahren vor, die Einschränkungen unterlaufen zu haben. Russland hieltWashington vor, das geplante Raketenabwehrsystem in Europa sei bereits eine Verletzung des Abkommens. Die USA halten dagegen: Das Abwehrsystem richte sich nur gegen potenzielle Raketen aus dem Iran. Moskau sieht aber eine Gefahr in dem MK41-System, eine Startvorrichtung für Lenkwaffen, das nach Rumänien nun auch in Polen aufgestellt werden soll.
Die USA behaupteten bereits 2014, dass Moskau seit Jahren an einer landgestützten Rakete arbeite. Dabei soll es sich um einen Marsch- flugkörper des Typs Novator 9M729 handeln. In der Nato wird Novator als SSC-8 gehandelt. Technische Details wurden in den USA kaum veröffentlicht. Beobachter gehen aber davon aus, dass die USA über ausreichend Einzelheiten verfügten. Nur ein Detail: Der Abschuss der Novator wird von Vorrichtungen für die Iskander-M-Rakete vorgenommen. Die Rampe muss wegen des erhöhten Flugradius unterdessen vollgetankt sein.
Der Vorsitzende des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik, Fjo- dor Lukjanow, glaubt, die USA stiegen aus dem Vertrag aus, weil er zurzeit nur Russland und die USA einschränke. Bedrohungen gingen aus US-Sicht von anderen Ländern wie China aus. „Bilaterale Verträge müssen geändert werden, sie sind nicht mehr aktuell. Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg“, so Lukjanow. Aus demselben Grund könnte 2021 auch der New-Start-Vertrag von 2010 nicht verlängert werden.
Die Reaktionen waren im Kreml und im russischen Außenministerium eher verhalten. Panik wegen der Ausstiegsankündigung sei nicht angebracht, sagt der Außenpolitikexperte Wladimir Frolow. Verteidigungsminister Sergej Schoigu und US-Verteidigungsminister James Mattis hätten sich schon vor drei Jahren darüber verständigt.
Militärexperte Alexander Golts sieht die Gefahr, dass Mittelstreckenwaffen unter US-Ägide nach Europa zurückkehren könnten und St. Petersburg erreichbar sein könnte: „Wir sind in der Zeit der Kubakrise angelangt, als es noch keine Rüstungskontrollabsprachen gab.“
Kritisch nimmt der Abrüstungsexperte Alexej Arbatow dasVertragsende voraus. Die geopolitische Klage habe sich seit 30 Jahren verändert. Jetzt sei es möglich, westlich, dicht an der Grenze zu Russland, und im Osten am Pazifik Systeme aufzubauen. Dennoch sei es noch keine Katastrophe. Er wundere sich aber, wie sich früher Politiker aktiv zum INF-Vertrag geäußert hätten. Heute gebe es bestenfalls mal Kritik. Die Idee eines Ausstiegs sei schon lange in den USA besprochen worden, meint William Smirnow von der
Russischen Akademie der Wissenschaften.Vor der Kongresswahl wolle sich Trump noch ein paar Punkte holen. „Auf das Verhältnis zwischen Trump und Putin wirkt sich das aber nicht aus. Auch wenn Putin vielleicht etwas für das heimische Publikum sagt.“
Ganz so gelassen sieht Arbatow das Vertragsende indes nicht. Auch Petr Topytschkanow vom Stockholmer Sipri-Institut gibt zu bedenken, wie sich der Dialog nach dem Ausstieg mit mehreren Beteiligten organisieren lasse.