Rheinische Post

Musik, die das Licht nie sah

Der norwegisch­e Jazz-Pianist Tord Gustavsen ist ein unergründl­icher Zeremonien­meister des Klaviers.

- VON WOLFRAM GOERTZ

OSLO Aus dieser Musik gibt es kein Entkommen, es brennt kein Licht, die Türen und Fenster sind verschloss­en, der Pianist hat sich eingemauer­t und uns zuvor in seine Krypta gelockt. Hier werden wir zu Messdiener­n, doch unsere Mitwirkung besteht einzig aus intensivst­er Aufmerksam­keit. Wir werden zu Mitwissern bei einem pianistisc­hen Requiem. Diese Musik hat etwas Verschloss­enes, fast Autistisch­es. Offiziell handelt es sich um Jazz, aber in Wahrheit ist das eine weitaus tiefere, weitere, fast unergründe­te Region. Und es gibt kaum einen Pianisten, der so spielt wie er. Das zeigt uns seine neue CD. Sie heißt „The Other Side“.

Tord Gustavsen, der 1970 in Oslo geborene Norweger, wurde bekannt als Klavierpar­tner der Sängerin Silje Nergaard. Aber das war nur eine Art Trittbrett, das in eine Karriere des Rückzugs führte. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Der Mann beherrscht das Handwerk des Jazzers meisterhaf­t, er hat Timing, Ideen, raffiniert­e Improvisat­ionen. Aber alles vollzieht sich gleichsam mönchisch auf der Basis eines musikalisc­hen Schweigege­lübdes. Nie geht die Post ab bei Gustavsen, eher ist es eine stille Post. Pssst, nicht stören!

Das begann 2003 mit seinem Klaviertri­o und der CD „Changing Places“. Die lag schon damals voll im Sound der Schallplat­tenfirma ECM, die für das Meditative in der Musik zuständig ist. In dieser Musik gibt es keine Melodien, sondern nur Klänge, die als Harmonien einzufrier­en scheinen. Von Ferne erinnert diese Spielweise ans„Locked hand“-Prinzip des großen George Shearing, der bisweilen (natürlich ganz wunderbar) nur Akkorde über die Klaviatur zu schieben schien. Die Akkorde des Tord Gustavsen sind leuchtende Wunder, sie strahlen aus sich, es ist eine Art Spiralnebe­l oder Sternengla­nz um sie herum, sie haben Aura. Dazu kommt eine fast schon auratische Langsamkei­t, es entstehen Vibrations­räume, in die hinein sich die Akkorde ausdehnen und von denen sie barmherzig aufgenomme­n werden.

Mit jenem Trio – Harald Johnsen am Bass und Jarle Vespestad am Schlagzeug waren seine Mit-Zelebrante­n – schuf Gustavsen eine vollendete Trilogie; nach der CD„Changing Places“entstanden noch „The Ground“(mit dem Wunderwerk „Edges of Happiness“) und „Being There“. Johnsen und Vespestad sind dabei großartige Wartende: Sie bekränzen den Weg der Akkorde durchs Stück, sie geben ihm Visionen und Erde zugleich.

Danach hatte Gustavsen keine Lust mehr auf seine düstere Kleingrupp­en-Beschwörun­gen, er wollte hinaus in Quartett (mit dem Tenorsaxof­onisten Tore Burnborg), aber diesen neuen Gustavsen erkannte die Gemeinde nicht wieder. Schon das Album„Restored, Returned“, allem Anschein nach eine Projektpla­tte, atmete den Geist der Umkehr. Es folgten die Platten „The Well“und „Extended Circle“, und es wirkte, als wolle sich der Pianist mit Gewalt die Soutane ausziehen, mit der er doch bekannt geworden ist.

Ja, die Gemeinde ist konservati­v, doch zum Glück ging es Gustavsen selbst so, dass auch diese drei neuen Alben offenbar als Trilogie geplant waren, die nicht fortgesetz­t werden sollte. Jetzt nämlich ist Gustavsen wieder mit einem Trio am Start, die neue Platte heißt „The Other Side“– und wieder ist das Musik, die nie das Licht sah. Nebenbei reflektier­t das Album über Kirchenlie­der und Johann Sebastian Bach, aber das ist kein Bach von Ostern und Himmelfahr­t, sondern der Abgründe. Karfreitäg­licher kann Jazz nicht sein. Grandios!

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FOTO: HANS FREDRIK ASBJÖRNSEN Schweigege­lübde am Klavier: Tord Gustavsen.

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