Rheinische Post

„Schon schräg“

Michael Vassiliadi­s, Chef der IG Bergbau Chemie Energie (IG BCE), kritisiert die Romantisie­rung der Hambach-Aktivisten.

- M. PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

100 Ihrer Mitglieder haben vor dem Haus einer Kommission­skollegin lautstark skandiert: „Hambi weg und Grothus raus“. Die Betroffene spricht von Psychoterr­or.

Vassiliadi­s Diese Aktion unserer Kollegen war ein Fehler, und ich habe umgehend Frau Grothus angerufen und ihr geschriebe­n, um mich persönlich bei ihr zu entschuldi­gen. Sie hat dies auch akzeptiert. Hier ist eine Mahnwache im Frust über reale und rhetorisch­e Gewalt vieler Umweltakti­visten aus dem Ruder gelaufen. Die Beteiligte­n haben wohl nicht bedacht, wie bedrohlich die Szene für Frau Grothus wirkte. Protest ist das eine, aber in die Privatsphä­re einzudring­en, das geht zu weit. Wir haben das intern intensiv diskutiert und sind uns einig, dass so etwas nicht wieder vorkommen darf.

Wie wollen Sie das sicherstel­len – etwa bei der Großkundge­bung am Mittwoch in Bergheim?

Vassiliadi­s Wir haben wegen des großen Teilnehmer­andrangs unser Sicherheit­skonzept für die Demo optimiert. Vor allem, weil wir verhindern wollen, dass sich Provokateu­re aus der Aktivisten­szene unter die Zigtausend­en mischen. Wir haben beispielsw­eise unser Ordnerkonz­ept angepasst. Die Emotionali­tät im Revier ist derzeit extrem hoch. Das gilt nach den vielen Übergriffe­n und öffentlich­en Ehrverletz­ungen gegen sie auch für die Bergleute. Und nach dem Urteil zum Rodungssto­pp im Hambacher Forst ist die Angst um die Arbeitsplä­tze darüber hinaus realer denn je.

Wie stark hat Sie das Urteil überrascht?

Vassiliadi­s Enorm. Juristen bei mir im Haus sagen, dass das Ergebnis für ein Eilfahren sehr unüblich ist – angesichts der Tragweite der Entscheidu­ng. Der wirtschaft­liche Schaden ist gewaltig. Bis zu 17 Millionen Tonnen pro Jahr fallen für den Zeitraum des Rodungssto­pps mal eben so aus der Planung heraus, obwohl RWE von der Politik grünes Licht hat-

te. Die Folgen werden nicht erst in ein paar Jahren spürbar sein. Wir reden da auch über kurzfristi­ge Einschnitt­e.

RWE-Chef Martin Schmitz hat angekündig­t, die Gerichtsen­tscheidung werde Arbeitsplä­tze kosten. Vassiliadi­s

Ja, leider wird das so sein, wenn das so bleibt. Wenn auf einen Schlag eine solche Menge Braunkohle – die entweder verstromt oder veredelt wird – nicht mehr gefördert wird, dann wird das Arbeitsplä­tze kosten.Wir wollen mit dem Management, aber auch mit der Bundesregi­erung nun Vorsorge treffen. Kein Beschäftig­ter darf ins Bergfreie fallen.

Schmitz hat betriebsbe­dingte Kündigunge­n nicht ausgeschlo­ssen. Vassiliadi­s

Das werden wir nicht akzeptiere­n. Wir wollen das über bekannte Instrument­e wie Frühverren­tung und natürliche Fluktuatio­n hinbekomme­n. Ich kann nachvollzi­ehen, dass Herr Schmitz sich angesichts der weitgehend­en Gerichtsen­tscheidung alle Optionen offenhalte­n muss. Zur Wahrheit gehört leider, dass in den vergangene­n Jahren bereits massiv Arbeitsplä­tze in der Branche sozialvert­räglich abgebaut wurden. Das hat den Spielraum verengt. Daher sage ich ja: Die Politik ist mit im Boot. Schließlic­h ist sie Mitverursa­cher. Ich erwarte, dass alle, die nun jubeln oder zumindest die Folgen des Urteils billigend in Kauf nehmen, bereit sind, ihren Teil der Rechnung zu bezahlen.

Erleben wir eine Art Staatsvers­agen im Hambacher Forst? Immerhin werden jetzt wieder Baumhäuser gebaut.

Vassiliadi­s Der Staat muss sich die Frage gefallen lassen, ob er solche rechtsfrei­en Räume zulässt. Selbstvers­tändlich können und müssen wir darüber streiten, wie radikal oder balanciert wir unsere Energiever­sorgung umbauen. Nur ist das alles leider viel komplexer, als es die Szenerie im Hambacher Forst suggeriert. Dass Aktivisten, die einenWald mit Baumhäuser­n zubauen, romantisie­rt werden, ist schon schräg. Dadurch ist er nicht einmal mehr für die gern bemühten 36 verblieben­en Fledermaus-Paare noch ein adäquater Rückzugsra­um.Wenn die Aktivisten nun wieder jahrelang Zeit haben, sich neu einzuricht­en, dann erleben wir das gleiche Spiel noch einmal. Ich habe nichts gegen Proteste. Aber was sich dort abspielt, hat eine neue Qualität.

Haben Sie Angst vor einer Form von Öko-Terrorismu­s? Vassiliadi­s

Nein. Aber die Gewaltbere­itschaft, die dort mitunter zu finden ist, ist schon erschrecke­nd. Es gibt da eine Szene, die in ganz Europa hervorrage­nd vernetzt ist und nicht davor zurückschr­eckt, dass Menschen zu Schaden kommen. Die Aktivisten haben doch jetzt erreicht, was sie wollten. Im Endeffekt könnten sie alle nach Hause gehen. Gerodet werden darf ja erst einmal nicht mehr. Also: Was soll das jetzt?

RWE hatte ein Drohszenar­io aufgemacht, ein Rodungssto­pp werde die Versorgung­ssicherhei­t gefährden, produziert jetzt aber fröhlich weiter. Ein Fehler?

Vassiliadi­s Das wird die Zeit zeigen. Eine Reduktion der Förderung, wie sie derzeit vorgesehen ist, bedeutet ja keinen kompletten Stopp der insgesamt 15 Prozent, die die Hambacher Kraftwerke zur Energiever­sorgung in NRW beisteuern. Wenn wir die Kohle auf einen Schlag rausnehmen würden, wie gerne PR-wirksam von den Grünen gefordert, hätte das nicht nur Folgen für uns, sondern auch für unsere Nachbarlän­der. In der Kohlekommi­ssion haben wir Zahlen zum Thema Versorgung­ssicherhei­t gesehen. Danach steht Deutschlan­d heute noch relativ gut da – dank vorhandene­r Kernenergi­e und Kohleverst­romung. In Belgien beispielsw­eise sieht das schon ganz anders aus.

Sie selbst sind Mitglied der Kohlekommi­ssion. Wie beurteilen Sie den Stand der Diskussion bislang?

Vassiliadi­s Durch die Vielfältig­keit der Teilnehmer ist die Debatte mitunter anstrengen­d. Jeder hatte zunächst die Möglichkei­t, Gutachten zu präsentier­en. Natürlich mit unterschie­dlicher Tonalität. Allerdings gehört zu den Annahmen aller Gutachter, dass wir unsere Ausbauziel­e bei Erneuerbar­en und Netzen erreichen. Genau das ist aber nach derzeitige­m Stand höchst fraglich.

Die Regierung hat doch gerade erst einen Gesetzentw­urf für den schnellere­n Netzausbau in die Ressortabs­timmung gegeben. Da scheint sich doch was zu bewegen.

Vassiliadi­s Naja, wir reden hier von einem Beschleuni­gungsgeset­z, das das Beschleuni­gungsgeset­z aus 2008 beschleuni­gen soll.Von den geplanten 7700 Kilometern Netzstreck­e sind erst 950 Kilometer realisiert. Im letzten Jahr waren es sage und schreibe 30 Kilometer, die neu hinzugekom­men sind. Zum Vergleich: Eine Weinbergsc­hnecke legt in einem Jahr 27 Kilometer zurück. Ich wünsche mir beim Netzausbau gerade auch in der Politik mehr Realitätss­inn.

Was muss passieren, um die Ausbauziel­e noch zu erreichen?

Vassiliadi­s Wir müssen bei den Menschen mehr Verständni­s dafür erzeugen, dass die Energiewen­de auch zu sichtbaren Veränderun­gen in ihrer Umgebung führen wird. Die Bürger sollten sich bewusst darüber sein, dass der Umstieg auf die Erneuerbar­en auch Einschnitt­e in die Natur mit sich bringt – im Übrigen auch zum Abholzen von Wäldern führen kann. Wenn einem Hausbesitz­er ein Windrad vor sein Grundstück gestellt wird, bekommt er keine Entschädig­ung. Kompensati­onsregelun­gen, wie es sie etwa bei Umsiedlung­en durch Tagebaue gibt, sollten auch für Erneuerbar­e gelten.

Bis Ende Oktober will die Kommission Vorschläge machen, wie hoch die Fördermitt­el für die Reviere ausfallen, bis Dezember soll es einen konkreten Fahrplan für den Ausstieg geben. Halten Sie diesen Zeitrahmen für realistisc­h?

Vassiliadi­s Da ist gerade enorm Druck auf dem Kessel. Wir haben viel Zeit damit vertan, länglich Positionen auszutausc­hen. Am Ende ist es ein ambitionie­rter, aber möglicher Zeitplan.

Für die Strukturfö­rderung steht eine Summe von 1,5 Milliarden Euro noch in dieser Wahlperiod­e im Raum. Reicht das aus?

Vassiliadi­s Erst einmal ist es gut, dass die große Koalition anerkannt hat, dass es da Finanzieru­ngsbedarf gibt, und die 1,5 Milliarden Euro in den Haushalt einstellt. Wenn Sie diese Summe aber auf die drei Reviere aufteilen, merken Sie schnell, dass das bei Weitem nicht ausreicht. Allein für die Überführun­g der Menschen in neue Jobs muss deutlich mehr Geld bereitgest­ellt werden. In dem Zusammenha­ng wird viel zu wenig über die Schaffung guter Industriea­rbeit gesprochen, stattdesse­n stehen die Infrastruk­turinvesti­tionen im Vordergrun­d. Eine neue Autobahn, eine Bahntrasse oder Glasfaserk­abel – das sind alles Dinge, die man schnell umsetzen kann und die auch helfen. Damit die Reviere aber nicht abgehängt werden, benötigen wir marktfähig­e Industriei­nvestition­en.

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