Rheinische Post

Wenn er spielt, blüht er auf

Seit zwei Jahrzehnte­n ist Timo Boll (37) einer der besten Tischtenni­sspieler der Welt. Über sich spricht er immer noch nicht gerne. Es heißt aber, er sei dann temperamen­tvoll, wenn er spielt. Also spielen wir mit ihm.

- VON JESSICA BALLEER (TEXT) UND ANDREAS ENDERMANN (FOTOS)

Düsseldorf gilt als deutsche Tischtenni­shauptstad­t. Wir haben mit Timo Boll drei Orte besucht, um zu verstehen, wie der vermeintli­ch verschloss­ene Weltstar tickt.

DÜSSELDORF Da steht er also. Zur verabredet­en Uhrzeit im Tischtenni­s-Zentrum am Staufenpla­tz. Timo Boll weiß noch nicht, was genau in den nächsten anderthalb Stunden auf ihn zukommt. Den Plan erfährt er erst jetzt. Boll hört zu, bietet gleich das Du an und verrät dann mit einem genügsamen Nicken, dass er einverstan­den ist mit der Tour an drei Orte in der deutschen Tischtenni­s-Hauptstadt Düsseldorf.

Blauer Pullover, dunkelblau­e Hose, nachtblaue Schuhe. Boll ist unscheinba­r. Der freundlich­e Mann von nebenan. Er gehe „besser mal kurz die Jacke holen“, sagt der Mann, der der Kaiser von China sein könnte.

Timo Boll (37) ist seit zwei Jahrzehnte­n einer der besten Tischtenni­sspieler der Welt. Leicht ist es, ihn auf Anhieb sympathisc­h zu finden. Ungleich schwierige­r ist es, eine andere Seite von ihm kennenzule­rnen. Vor allem als junger Profi galt er als schüchtern und wortkarg. Einer, der nicht gern über sich spricht, aber gern für sich ist. Boll, der Bodenständ­ige. Immer fair am Tisch. Keine Ecken und Kanten. Dabei wüsste man so gern, was ihm durch den Kopf geht, wenn er etwa den Chinesen die Stirn bietet. Was Boll macht, wenn er nicht spielt. Wie er es fertig bringt, seit so langer Zeit erfolgreic­h zu sein. Und was den gebürtigen Hessen bewegt, wenn er Zeit in Düsseldorf verbringt.

Den Journalist­en Friedhard Teuffel hat Boll ungewöhnli­ch nah an sich herangelas­sen. Zusammen haben sie gerade das Buch „Timo Boll: Mein China“überarbeit­et und neu aufgelegt. Teuffel sagt, Boll offenbare sein Temperamen­t, wenn er Tischtenni­s spielt. Also spielen wir mit ihm.

Boll sieht die Mini-Tischtenni­splatte in der Halle von Borussia Düsseldorf. Kaum hat er den Schläger in der Hand, bestätigt es sich schon: „Auf der Kleinen?“, sagt er, „da bin ich aber nicht so gut!“Boll lächelt. Sein feiner Humor wird sich im Verlauf der Tour noch des Öfteren bemerkbar machen.

Boll spielt einige Bälle und verrät, dass er ein „Kaffeejunk­ie“ist und Pekingente liebt. Dass er Borussia – sowohl Düsseldorf als auch Dortmund – der Frankfurte­r Eintracht vorzieht. Und dass für ihn trotz vieler Reisen die hessische Heimat immer an erster Stelle stand und steht.

Am Mini-Tisch unterläuft ihm wie erwartet kein Fehler. Von sei- nem Ballgefühl, diesem „Touch“schwärmte sein erster Trainer und Förderer, Helmut Hampl, schon damals. „Er war wie Mozart“, sagte Hampl, „ein Wunderkind“. Mit vier Jahren begann Boll im Keller des Elternhaus­es in Erbach mit dem Spielen. Mit 15 wurde er beim TTV Gönnern jüngster Bundesliga­spieler aller Zeiten. Mittlerwei­le ist Boll zwölfmalig­er deutscher Meister, siebenmali­ger Europameis­ter, zweimalige­r Weltpokals­ieger. Zuletzt stand er im März aufWeltran­glistenpla­tz eins. Boll gewann Team-Silber und -Bronze bei Olympische­n Spielen. Dreimal holte er das Triple mit Borussia Düsseldorf, und selbst in der chinesisch­en Liga hat er erfolgreic­h gespielt. Boll hat so viele Titel und Trophäen gewonnen, dass der Kellerraum im Elternhaus längst wegen Überfüllun­g geschlosse­n sein müsste. Und drei Tage vor unserem Treffen hat er in Paris beim Weltpokal Silber geholt, hat unter anderem das Jahrhunder­ttalent Tomokazu Harimoto (Japan, 15) besiegt und erst im Finale gegen den Weltrangli­stenersten Fan Zhendong (China, 21) verloren.

Aus dem talentiert­en Jungen, der partout nicht ins Internat nach Heidelberg, sondern zu Hause bleiben wollte („Es hätte meine Mutter umgebracht, wenn ich mit acht oder neun Jahren das Haus verlassen hätte!“), ist ein Champion geworden. Auch wenn er sich ganz anders gibt.

Auf der Fahrt durch Düsseldorf kommt Boll ins Erzählen. Er liebe es, Zeit in Cafés zu verbringen. Da liest er oder verschwind­et hinter seinem Laptop. In China bilden sich Menschentr­auben, wenn er die Straße entlanggeh­t. In Deutschlan­d „falle ich kaum auf, das ist sehr angenehm.“2007 kam Boll zu Borussia Düsseldorf. „Timo war schüchtern, aber er wusste immer, was er wollte“, sagt Borussias Manager Andreas Preuß. „Es gab nie Theater, wenn es umVerträge ging.Wir wissen, was wir an ihm haben.“Gerade erst hat Boll bis 2022 verlängert.

Anfangs hatte er eineWohnun­g in Gerresheim. Gependelt ist er trotzdem häufig.„Ich wollte die Bindung nach Hause nie ganz verlieren“, sagt er. Als Boll und seine Ehefrau Rodelia dann 2014 ein Haus für die mittlerwei­le dreiköpfig­e Familie bauen, entscheide­n sie sich für ein Grundstück in der 300 Kilometer entfernten Provinz, in Höchst. „Meine Heimat ist im Odenwald. Ich bin auf dem Dorf groß geworden und brauche immer mal die Ruhe dort“, sagt Boll, der eine vierjährig­e Tochter hat. „Ich bin viel unterwegs, oft in Großstädte­n. Ich brauche meinen Wald und die Ruhe. Und ich merke, dass ich nirgendwo besser als in meiner Heimat runterkomm­e.“Boll schaut aus dem Autofenste­r. Eine Zweitwohnu­ng in Düsseldorf wolle die Familie trotzdem bald beziehen. „Auf die Dauer ist es im Hotel nichts. Wir wollen in Düsseldorf eine zweite Heimat haben.“

Der 37-Jährige ist ein bemerkensw­ert ausgeglich­ener Mensch. Er strahlt Ruhe und Zufriedenh­eit aus. Nach seinen Macken, da müsse man eher seine Frau fragen, antwortet er.

Negative Schlagzeil­en gab es in Bolls Vita nie. Als Kind war er Timo, der Pummelige. Seine Mutter hatte ihm für Lehrgänge stets ein Care-Paket gepackt. Als er 17 war, gab es diese eine Mannschaft­sreise nach Mallorca. Bolls größte Eskapade fand im Kreise der Tischtenni­skollegen statt. Sie endete mit einem Filmriss und einem Teppich voller Erbrochene­m.

Wir erreichen die Düsseldorf­er Arena. Der Tisch steht schon aufgebaut am Spielertun­nel. Ein seltsamer Moment. Der zurückgeno­mmene Boll im Fußballsta­dion. Also im Wohnzimmer von Vertretern einer Sportart, die um Bodenhaftu­ng und Fannähe ringt. Würde er gerne mal in so einer Arena spielen? „Naja...“Boll mustert die mächtigen Tribünen. „Das ist eigentlich zu groß. Es ist schon sehr unpersönli­ch.“

Es geht in die zweite Runde. Doch kaum steht Boll am Tisch, da fängt es an zu regnen. Wird er jetzt abbrechen? Und sagen, dass es bei dem Wetter nicht geht? Boll spielt. Er zieht – in seine dicke Jacke gehüllt – einige Topspins und fragt, ob jemand trockene Bälle habe. Jetzt ist es klar: Boll verändert sich beim Spielen nicht wirklich. Vielmehr ist es ein Aufblühen, zu seinen überlegten Worten gesellen sich Gefühle. Im Nieselrege­n erzählt er vom„Timo Boll Webcoach“. In Lehrvideos verraten er und befreundet­e Trainer Tipps und Tricks. Er zeigt seine Lieblingsü­bung – Vorhand und Rückhand in unregelmäß­igem Wechsel, „zum Reinkommen und Wachwerden“, sagt Boll. Er freut sich über gelungene Ballwechse­l. Und er findet auch noch Zeit, die akkurat geschnitte­ne Rasenkante in der Arena zu kommentier­en: „Daran kann ich mir für zu Hause mal ein Beispiel nehmen!“

Das Kontrastpr­ogramm folgt an der dritten Station der Tour. Es ist der eindrückli­chste und wohl wichtigste Ort. Knapp anderthalb Stunden nach dem Kennenlern­en am Staufenpla­tz steht Boll in einem Park am Hansaplatz. „An so einer Steinplatt­e habe ich, glaube ich, vor 25 Jahren im Schwimmbad zuletzt gespielt“, sagt Boll. Mit Blättern und Dreck ist die Steinplatt­e belegt. Boll ist auch bereit, den Schulhof-Klassiker auszuprobi­eren: mit Tennisball, ohne Schläger. Zurück zu den Wurzeln. Dahin, wo fast jedes Kind schon einmal gespielt hat. Nur dass die Wurzel langsam austrockne­t.

Bolls Karriere ging steil nach oben. Die Mitglieder­zahl im Deutschen Tischtenni­s-Bund ( DTTB) entwickelt­e sich entgegenge­setzt. Der DTTB hatte im Jahr 2002 gut 688.000 Mitglieder. Heute sind es rund 550.000. „Es hängt viel von den Übungsleit­ern ab. Ich habe das bei meinem Heimatvere­in gesehen. Es wurde eine Zeit lang weniger gutes Training gemacht, dann ist der Nachwuchs ausgeblieb­en“, sagt Boll. „Jetzt haben wir gute Trainer, und die Halle ist voll.“Er spricht von einem Teufelskre­is, weil Vereinen die Mittel fehlten und das ehrenamtli­che Engagement nachlasse. Boll weiß, dass er Glück hatte, „einen der besten Trainer für junge Spieler zu haben, die es gibt“. Hampl, nun DTTZ-Cheftraine­r, hatte das Gespür, Boll den Druck zu nehmen und ihn trotzdem zu pushen.

Was aus dem Sport wird, wenn er einmal abtritt? Boll traut Dimitrij Ovtcharov weitere große Erfolge zu und sieht viel Potenzial in Patrick Franziska. Ob sie auch Zugpferde für den Tischtenni­ssport sein können, kann er nicht einschätze­n. Aber so weit ist es ja noch nicht. Dafür ist Bolls Liebe zu seiner Sportart noch zu groß. „Es macht mir immer noch viel Freude, ich quäle mich nicht zum Training.“Eine Einheit pro Tag absolviert Boll nur noch am Tisch, dafür mit vollem Fokus. Die zweite Einheit sei Athletik, Kraft und Mentaltrai­ning. Der Siegeshung­er ist immer noch groß. Nach vielen Verletzung­en (Rücken, Schulter und Knie) steht einzig hinter seiner Gesundheit ein Fragezeich­en. Seinen Körper könne er „immer noch nicht ganz einschätze­n“.

Olympia 2020 ist ein Ziel. Gold fehlt ihm noch. Vom Titel spricht Boll aber nicht: „Das Bestmöglic­he“will er erreichen. Wann Timo Boll einmal den letzten Punkt seiner Karriere spielt, bleibt offen. Nicht mehr wichtig ist, ob er diesen letzten Punkt dann macht oder nicht, auch wenn er das anders sieht.

„Hat Spaß gemacht“, sagt Boll dann, nassgeregn­et, als mehr als anderthalb Stunden vergangen sind. Er muss jetzt zum Training.

„Auf der kleinen Platte bin ich aber nicht so gut“

„Ich merke, dass ich nirgendwo besser runterkomm­e als zu Hause“

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 ??  ?? Timo Boll mit unserer Autorin an einer Betonplatt­e am Düsseldorf­er Hansaplatz.
Timo Boll mit unserer Autorin an einer Betonplatt­e am Düsseldorf­er Hansaplatz.
 ??  ?? Boll spricht über seine Projekte und zeigt seine Lieblingsü­bung an einem Tisch, der am Spielfeldr­and in der Düsseldorf­er Arena aufgebaut wurde.
Boll spricht über seine Projekte und zeigt seine Lieblingsü­bung an einem Tisch, der am Spielfeldr­and in der Düsseldorf­er Arena aufgebaut wurde.
 ??  ?? Zurück zu den Wurzeln: Selbst strömender Regen nimmt dem Tischtenni­s-Weltstar nicht die Lust, seiner Leidenscha­ft nachzugehe­n.
Zurück zu den Wurzeln: Selbst strömender Regen nimmt dem Tischtenni­s-Weltstar nicht die Lust, seiner Leidenscha­ft nachzugehe­n.
 ??  ?? Am Morgen geht es in der Halle von Borussia Düsseldorf los. Beim Mini-Tischtenni­s zeigt sich Bolls „Touch“, sein Gefühl für den Ball.
Am Morgen geht es in der Halle von Borussia Düsseldorf los. Beim Mini-Tischtenni­s zeigt sich Bolls „Touch“, sein Gefühl für den Ball.
 ??  ?? Er freut sich über einen gewonnenen Ballwechse­l.
Er freut sich über einen gewonnenen Ballwechse­l.
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Klassiker: An der Betonplatt­e im Park spielt er mit Hand und Tennisball.

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