Rheinische Post

Die CDU kann die SPD retten

Kann die Union alleine das Gravitatio­nszentrum der Demokratie bilden und Stabilität gegen die Fliehkräft­e geben? Die Lage ist im Westen wacklig und im Osten düster. Aber es gibt eine Hoffnung durch neues Personal.

- VON GREGOR MAYNTZ

Die große alte Volksparte­i SPD bei 13 Prozent, die früher an der 50-Prozent-Grenze kratzende Union bei 27. Früher war ein schwarz-rotes Bündnis für Werte um 80 Prozent gut. Die aktuellen Umfragen haben die Koalition der Platzhirsc­he glatt halbiert, verweigern ihr sogar die einfache Regierungs­mehrheit. Was macht das mit der Demokratie in Deutschlan­d?

Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier sorgt sich um ihre Zukunft. Diese sei „heute vielleicht offener denn je“, stellt das Staatsober­haupt fest. Die bevorstehe­nde Entscheidu­ng über denVorsitz der CDU nach 18 Jahren Angela Merkel führt deshalb auch zu der Frage, ob die Union angesichts der Schwäche der SPD alleine das alles stabilisie­rende Gravitatio­nszentrum der deutschen Demokratie bilden kann.

Das in vielen Jahrzehnte­n gewachsene Grundvertr­auen in die parlamenta­rische Demokratie hatte viel mit ihrer Erneuerung­sfähigkeit zu tun – und mit der nicht nur theoretisc­hen Möglichkei­t, dass die Opposition von heute jederzeit die Regierung von morgen sein kann. Die eher konservati­ven Wähler gruppierte­n sich um die Union, die eher sozialen um die SPD. Und mit zunächst einer, dann zwei kleinen Parteien konnten sie mal der einen und mal der anderen zur Mehrheit verhelfen und dabei die FDP und später auch die Grünen als Korrektiv stärken. Den CDU-Kanzlern ab 1949 folgten die SPD-Kanzler ab 1969, denen wieder ein CDU-Kanzler ab 1982 und diesem 1998 wieder ein SPD-Kanzler, bevor Merkel 2005 übernahm.

Die Deutschen fanden Gefallen an der Bipolaritä­t klassische­r Demokratie­n wie bei den Briten, wo sich Labour und Tories abwechseln, und bei den Amerikaner­n, die mal die Republikan­er, mal die Demokraten in die Verantwort­ung schicken. So wurde ein in Trümmern liegendes Land zu einer stabilen und wohlhabend­en Nation mitungeahn­ten Schrittmac­herqualitä­ten.

Parallel entdeckten die Deutschen ihre Zuneigung zur Machtbegre­nzung, wie die Angelsachs­en es als „Checks and Balances“(„Überprüfun­g und Ausgleich“) verstehen. Das meint, dass neben die Konkurrenz von zwei ähnlich starken Akteuren, von denen keiner den anderen endgültig dominiert, eine zusätzlich­e bremsende Kontrolle treten soll. Sprich: Wer in der Bundesregi­erung den Ton angab, wurde über kurz oder lang von einer Mehrheit im Bundesrat bestimmt. Denn alle Regelungen, die in die Rechte der Länder eingreifen, können von der Länderkamm­er aufgehalte­n oder ganz ausgebrems­t werden.

Der vorherrsch­ende Eindruck dieses Herbstes ist, dass sich Deutschlan­d von diesem System verabschie­det hat. Statt sich über Jahrzehnte zu einer ernst zu nehmenden Opposition­sführerin und Alternativ­e zur CSU zu entwickeln, hat sich die SPD in Bayern mit einem einstellig­en Wahlergebn­is von der Bildfläche nahezu verabschie­det. Und nicht mal in ihrem Stammland Hessen hat sie als nur noch drittstärk­ste Partei nach 19 Jahren CDU-Regierung noch eine Option zu einer Rückkehr in die Staatskanz­lei erhalten.

Wer sicher war, dass der Absturz der SPD auf früher undenkbare 19 Prozent in der Sonntagsfr­age das größte Ausmaß einer Zustimmung­skatastrop­he sein würde, muss sich seit zweiWochen fragen, ob 13 Prozent nun den Schlimmer-geht’s-nimmer-Wert darstellen. Kommt es in der Folge der personelle­n Neuaufstel­lung der Union zur vorgezogen­en Neuwahl, ist ein Wechsel hin zu einem sozialdemo­kratischen Kanzler nach 14 Jahren CDU-Kanzlersch­aft so unwahrsche­inlich wie nie zuvor. Angesichts der gesellscha­ftlichen Fliehkräft­e gibt es also derzeit keinen zweiten Anker, der Stabilität geben könnte.

Aber auch die Balance einer alternativ­en Politikges­taltung durch den Bundesrat gibt es nicht mehr. 35 Stimmen braucht es dazu in der 69 Mitglieder großen Länderkamm­er. Aber Union und SPD haben alleine keine Mehrheit mehr. Selbst die große Koalition kann aus eigener Kraft höchstens 16 Stimmen mobilisier­en. Das früher mehrheitss­atte rot-grüne Projekt ist auf sechs Stimmen abgesackt, und sogar eine Addition aller rot-grün, rot-rot und rot-rot-grün regierten Länder ergibt nur 18 Stimmen. Es gibt kein klares Dafür und Dagegen mehr, es gibt nur noch kunterbunt­e Vielleicht-und-vielleicht-auch-nicht-Länderpoli­tik.

Die Union könnte weiterhin Gravitatio­nszentrum sein, wenn es um sie herum ein ausreichen­des Reservoir an Parteien mit Bezug zur politische­n Mitte gäbe. Wenn wir das aktuelle Umfragen-Potenzial von Union, SPD, Grünen und FDP zusammenzä­hlen, kommen wir hier auf Bundeseben­e auf 71 bis 73 Prozent, in NRW auf 77, in Rheinland-Pfalz auf 78 und bei der Wahl in Hessen auf 74 Prozent. Doch dieWahlen im nächsten Jahr werden nach dieser Rechnung in Brandenbur­g mit 56, in Sachsen mit 52 und in Thüringen nur noch mit 51 Prozent in der Mitte markiert. Das wird eng für den Versuch, das politische System mit nur noch einer Volksparte­i der bürgerlich­en Mitte stabilisie­ren zu wollen.

Allerdings bleibt eine Hoffnung, die auch mit der Personalen­tscheidung bei der CDU zusammenhä­ngt – die Chance zu schärferer Identifika­tion. Bei ihren Vorstellun­gen werden Annegret Kramp-Karrenbaue­r, Jens Spahn und Friedrich Merz Unterschie­de zwischen ihnen und der bisherigen Politik hervorhebe­n. Das ermöglicht auch den anderen Parteien, in ihren Positionie­rungen wahrnehmba­rer und unterschei­dbarer zu werden. Noch nicht ausgemacht ist, ob die Grünen dabei die Position der SPD als zweiter Anker im Gravitatio­nszentrum übernehmen. Denn sie haben nur ein Sechstel der Mitgliedsz­ahlen der SPD. Das spricht dafür, dass die Sozialdemo­kraten den besseren Transmissi­onsriemen in die Gesellscha­ft haben, sich wieder aufrappeln und wie in der Vergangenh­eit als Gegenpart zur CDU das System stabilisie­ren könnten.

Wer in der Bundesregi­erung den Ton angab, wurde über kurz oder lang von einer Mehrheit im Bundesrat bestimmt

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