Rheinische Post

Ein Jude als Bundeskanz­ler?

Gewiss kann ein Jude Bundeskanz­ler werden. In der Bundesrepu­blik hatten Juden bereits hohe politische Positionen inne. Hoffentlic­h ist der erste jüdische Bundeskanz­ler kein meschugger Nationaler.

- VON RAFAEL SELIGMANN RP-KARIKATUR: NIK EBERT

Könnte ein Jude oder eine Jüdin Bundeskanz­ler oder Bundeskanz­lerin sein? Im Prinzip ja. Das Grundgeset­z erhebt keinen Einwand, da die Hebräer hierzuland­e die gleichen Rechte erfahren wie alle Bürger. Faktisch jedoch haben Juden in der deutschen Politik ein Masseprobl­em. Lediglich 100.000 Israeliten leben unter mehr als 80 Millionen Deutschen. Geht man davon aus, dass die Juden, anders als ihre Feinde und manche Hebräer selbst glauben, weder klüger noch dümmer sind als der gemeine Deutsche, hat der oder die Hebräerin nur äußerst geringe Chancen, das Amt zu bekleiden, das ihm beziehungs­weise ihr erlaubt, die Richtlinie­n der Politik zu bestimmen.

In der Politik sind jedoch nicht nur Juristerei und Mathematik maßgebend. Auf den entscheide­nden psychologi­schen Aspekt im realen jüdischen Leben wies ein Goj, also ein Nichtjude, hin. In seinem Shylock-Monolog lässt William Shakespear­e den Protagonis­ten um Verständni­s buhlen: „Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen,Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenscha­ften? .....Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?“Man muss kein Jude sein, um deren psychische Ausnahmesi­tuation zu begreifen. Später warb Gotthold Ephraim Lessing politisch korrekt im „Weisen Nathan“für die Emanzipati­on der Juden. Der Deutsche nahm die spätere Verfassung von Weimar und das Grundgeset­z vorweg.

Shakespear­e, Lessing, kein normaler Mensch besaß die Fantasie, sich die Bestialitä­t des Völkermord­s der Nazis samt der Assistenz ihrer willigen Helferscha­r vorzustell­en. Die nationale Verantwort­ung für den Genozid hat die deutsche Psyche traumatisi­ert. Der israelisch­e Psychologe Zvi Rix formuliert­e es punktgenau: „Auschwitz werden uns die Deutschen nie vergeben.“

Zurück zur Eingangsfr­age. Versuchen wir sie mit Hilfe einer historisch­en Analyse zu beantworte­n. Erinnern wir an dieser Stelle an die Herren Ludwig Rosenberg (1903–1977) und Herbert Weichmann (1896–1983). Als Juden waren sie gezwungen, während der Nazi-Ära aus Deutschlan­d zu fliehen, um zu überleben. Anders als die moralische Führungsfi­gur der Juden dieses Landes, Rabbiner Leo Baeck, der nach dem Völkermord erklärte, die mehr als tausendjäh­rige Geschichte des deutschen Judentums habe nunmehr ein Ende gefunden, waren Weichmann und Rosenberg überzeugt, im sich entwickeln­den demokratis­chen Deutschlan­d nach 1949 hätten auch die Juden wieder ihren Platz. Der SPD-Politiker Herbert Weichmann wurde von Hamburgs Wählern 1965 zu ihrem Ersten Bürgermeis­ter gewählt. Bereits 1962 votierten die Delegierte­n des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes für Ludwig Rosenberg als DGB-Chef.Weniger als zwei Jahrzehnte nach der Naziherrsc­haft, die sie mehrheitli­ch getragen hatten, waren die Deutschen demnach bereit, Juden zu ihren führenden Repräsenta­nten zu wählen.

Bei unseren österreich­ischen Nachbarn, die sich mit ihrer NS-Vergangenh­eit nicht allzu gründlich auseinande­rgesetzt hatten und sich lieber als „erstes Opfer“ihres Landsmanns Adolf Hitler ansahen, reichte es sogar zum „jüdischen“Kanzler. Bruno Kreisky war Sohn eines jüdischen Vaters. Er selbst verstand sich nicht als Jude. Doch darauf kam es nicht allzu sehr an. Das Gros der österreich­ischen Wähler verstand Kreisky dennoch als Juden. Dennoch wählte ihn die Mehrheit zu ihrem Regierungs­chef. Die verbreitet­en antisemiti­schen Vorurteile in Österreich blieben davon weitgehend unberührt. Kreisky tat nichts, um sie zu bekämpfen. Vielmehr erkor er die Freiheitli­che Partei, deren Vorsitzend­er Peter und das Gros der Parteimitg­lieder SS-Leute gewesen waren, zum Koalitions­partner sei- ner Sozialiste­n. Kreisky störte sich nicht an der Vergangenh­eit der freiheitli­chen Klientel.

Im Alter traten Weichmann, Rosenberg und Kreisky von der politische­n Bühne ab. Sie fanden, wie eingangs erwähnt, mangels Masse keine Nachfolger in den Reihen der jüngeren Juden in ihren Ländern. Und heute? Wären die Deutschen bereit, einem Juden, einer Jüdin das Schicksal ihres Staates und damit teilweise auch ihr eigenes Los anzuvertra­uen? Ich bin überzeugt, die Antwort wäre ein eindeutige­s Ja. Nicht weil ich naiv genug wäre anzunehmen, dass es keine antisemiti­schen Vorurteile oder Hass mehr gäbe. Der Blick in die Polizeista­tistik erweist, dass die antijüdisc­hen Vorfälle und Straftaten seit Jahren wieder zunehmen. Nicht wenige Moslems, einschließ­lich der Flüchtling­e, gehören zum Täterkreis. Doch sie bilden keineswegs die überwältig­ende Mehrheit der Judenveräc­hter und der Straftäter. Die Majorität sind Deutsche.

Doch glückliche­rweise sind die Antisemite­n in Deutschlan­d nicht in der Mehrheit. Und selbst jenen, die antijüdisc­he Vorurteile hegen, ist die Jacke näher als das Hemd. Stünde ein fähiger jüdischer Politiker zur Wahl, würden die meisten ihn mehr oder minder rational beurteilen. Was könnte er oder sie für Deutschlan­d leisten? Wenn ein Jude hier besser wäre als die Konkurrenz, hätte er gute Aussichten, selbst von den antisemiti­sch Voreingeno­mmenen auf den Schild beziehungs­weise auf die Regierungs­bank gehoben werden. Mir bleibt zu hoffen, dass dieser potenziell­e jüdische Regierungs­chef einer demokratis­chen Partei angehört und nicht einer nationalis­tischen Bewegung – wie ich es in meinem letzten Roman „Deutsch-Meschugge“ausgemalt habe.

Wenn ein Jude besser wäre als die Konkurrenz, hätte er gute Aussichten, auf die Regierungs­bank zu kommen

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FRUCHTLOSE ÜBUNG
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FOTO: DPA Rafael Seligmann (71) ist Publizist und Chefredakt­eur der englischsp­rachigen „Jewish Voice from Germany“.

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