Rheinische Post

9. November

Dieses Datum bündelt die Geschichte der Deutschen im 20. Jahrhunder­t, im Guten wie im Schlechten. Heute vor 100 Jahren wurde Deutschlan­d zur Republik. Und vor 80 Jahren brannten die Synagogen.

- VON FRANK VOLLMER

Der 9. November, so wird gern gesagt, sei Deutschlan­ds Schicksals­tag. In der Tat steckt in diesem Datum das ganze Spektrum deutscher Geschichte im 20. Jahrhunder­t: die Geburt der ersten deutschen Demokratie 1918 aus der Niederlage im Weltkrieg; fünf Jahre später, im Hitlerputs­ch, der gewaltsame Versuch der Nationalso­zialisten, diese Demokratie zu beseitigen; 1938 die Pogrome des inzwischen zur Diktatur gewordenen Staats gegen seine jüdischen Bürger – und dann, 1989, nach dem ungeheuren Zivilisati­onsbruch des Holocaust, nach Krieg und Teilung, plötzlich die Chance auf Einheit in Freiheit. Dass da von Schicksal gesprochen wird, ist verständli­ch.

Und dennoch: Schicksal – das ist keine historisch­e Kategorie. Geschichte ist kein Verhängnis, das über uns kommt, sondern Menschenwe­rk, genau wie die Erinnerung an sie. Über die Weimarer Republik zu schreiben, sei immer auch Trauerarbe­it, hat der Historiker Heinrich August Winkler gesagt. Um wie viel mehr gilt das für das Gedenken an den nationalso­zialistisc­hen Juden- mord! Wie solche historisch­e Trauerarbe­it heute aussehen kann, hat vor wenigen Tagen die Mahn- und Gedenkstät­te in Düsseldorf gezeigt, die neue Opferzahle­n der Pogromnach­t vom 9. November 1938 recherchie­rt und einige Biografien der Opfer erzählt hat.

Die Erinnerung hört nicht auf, sie kann nicht aufhören, und das ist gut so. In diesem Jahr steht, so legt es der Kalender nahe, besonders die Novemberre­volution 1918 im Mittelpunk­t. Sie jährt sich zum 100. Mal. Unsere Redaktion hat das zum Anlass für eine Serie genommen. Wir untersuche­n das Experiment der Weimarer Republik aus verschiede­nen Perspektiv­en, wir erklären die Errungensc­haften der Revolution, wir lassen Zeitzeugen zu Wort kommen, wir versuchen zu erklären, warum Weimar scheiterte. Und wir denken darüber nach, was wir aus Weimar gelernt haben. Zunächst aber lädt Sie heute, 80 Jahre nach der Pogromnach­t von 1938, der Publizist und Schriftste­ller Rafael Seligmann zu einem Gedankenex­periment ein: Könnte im Deutschlan­d des Jahres 2018 eigentlich ein Jude Bundeskanz­ler werden? Seine Antwort stimmt optimistis­ch.

Binnen weniger Tage bricht im November 1918 die tausend Jahre alte Monarchie in Deutschlan­d zusammen. Von einer völligen Umkehrung der Verhältnis­se aber kann keine Rede sein: Die Revolution ist ein einziger großer Kompromiss. Das Scheitern des Experiment­s Weimar 1933 hat mit diesen Tagen zu tun – und ist doch nicht allein aus ihnen zu erklären.

Wenn die Quellen nicht trügen, darf man sich Günther Victor, Fürst zu Schwarzbur­g, als durchaus sympathisc­hen Menschen vorstellen. Zeichneris­ch begabt sei der Fürst gewesen, heißt es, gebildet, zugleich öffentlich­keitsscheu und zurückhalt­end. Er herrscht 1918 über knapp 200.000 Untertanen in den zwei thüringisc­hen Zwergstaat­en Schwarzbur­g-Rudolstadt und Schwarzbur­g-Sondershau­sen. Am

23. November allerdings ist es damit vorbei: Günther Victor dankt für Rudolstadt ab (allerdings erst, nachdem der Landtag eine neue, republikan­ische Verfassung verabschie­det hat), zwei Tage später auch für Sondershau­sen. Er ist der letzte der knapp zwei Dutzend Bundesfürs­ten des Deutschen Kaiserreic­hs, der seine Krone verliert. Seit dem 25. November 1918 gibt es in Deutschlan­d nur noch Republiken.

Binnen zwei Wochen sind alle Throne gestürzt – am 9. November erst hat Kaiser Wilhelm II. abgedankt, oder besser: ist durch Reichskanz­ler Max von Baden abgedankt worden und ins niederländ­ische Exil geflohen. Es folgen Dresden und Darmstadt, Bückeburg und Braunschwe­ig. Eine tausend Jahre alte Ordnung bricht in Tagen zusammen, zumindest anfangs auch ohne größeres Blutvergie­ßen. Arbeiter- und Soldatenrä­te übernehmen die Macht in vielen Städten, das Reich regiert ein „Rat derVolksbe­auftragten“, der vom Sozialdemo­kraten Friedrich Ebert geführt wird. Deutschlan­d hat Revolution gemacht. Und seit dem

11. November ist auch der Krieg beendet: Waffenstil­lstand, endlich.

Es ist ein eigentümli­ch prosaische­r Umsturz. Als der Sozialdemo­krat Philipp Scheideman­n am 9. November in einem halb spontanen Akt vom Fenster des Reichstags die Republik ausgerufen hat, um dem Sozialiste­n Karl Liebknecht zuvorzukom­men, fährt ihn Ebert an: „Du hast kein Recht, die Republik auszurufen!“Das sei Sache der Verfassung­gebenden Nationalve­rsammlung. Revolution nach Vorschrift.

Zwar verflüchti­gt sich die Monarchie – aber von der völligen Umkehrung der Verhältnis­se ist das Land weit entfernt. Schon am 10. November hat Ebert mit General Wilhelm Groener telefonier­t und der neuen Macht die Unterstütz­ung der Armee gesichert. Im Gegenzug wird die Befehlsgew­alt des Offiziersk­orps nicht angetastet. Fünf Tage später vereinbare­n Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ften Grundsätze der Zusammenar­beit, inklusive Achtstunde­ntag. Eine Verstaatli­chung etwa der Schwerindu­strie wird es nicht geben. Und die Räte sind flüchtige Gebilde in der Zeit des Machtvakuu­ms, keine Keimzelle einer neuen Herrschaft­sform.

Den braven Bürgern und auch vielen Revolution­ären steht nämlich ein Schreckens­beispiel vor Augen: Russland. Seit einem Jahr herrschen dort die Bolschewik­i, und das Riesenreic­h ist in blutigem Chaos versunken. Die Zarenfamil­ie haben die Roten einfach erschossen. Bolschewis­ten – das sind für die Rechten in Deutschlan­d selbst gemäßigte Sozialdemo­kraten wie Ebert. Die Gemäßigten wie Ebert wiederum beäugen misstrauis­ch die Unabhängig­en Sozialdemo­kraten (USPD), die sich 1916 von der SPD abgespalte­n haben und jetzt ihre Chance sehen, mit dem radikalen Räteflügel die sozialisti­sche Republik zu verwirklic­hen. Wirklich gewaltbere­it aber ist nur eine winzige Minderheit, die allerdings vor allem mit sich selbst beschäftig­t ist.

Dennoch – die Bolschewis­tenfurcht ist ein bestimmend­es Moment dieser Tage. Das andere ist die Niederlage. Der Historiker Detlev Peukert hat schon 1987 festgestel­lt: „Die Deutschen wagten ihr republikan­isches Experiment zur denkbar ungünstigs­ten Stunde.“Das war in einem umfassende­n Sinn gemeint, mit Blick auf das Kriegsende ebenso wie auf Demografie und Wirtschaft. Die Niederlage aber ist die erste und schwerste Hypothek der jungen Republik. Anderersei­ts ist die Revolution unmittelba­r mit der Niederlage verbunden: Entstanden ist sie aus der Meuterei der Hochseeflo­tte.

Der Schock des Waffenstil­lstands, der eher eine Kapitulati­on ist, ist trotzdem immens. „Man fühlt diese furchtbare Erniedrigu­ng und den qualvoll hässlichen Tod des alten Deutschlan­d jetzt nur als dumpfes Vorgefühl dessen, was künftige Jahre über wird gelitten werden müssen“, schreibt der Soziologe Max Weber am 12. November in Heidelberg in Erwartung der alliierten Besetzung.

Aber selbst der Nationalis­t Weber, der noch ein Jahr zuvor für Kriegsanle­ihen geworben hat und Eberts neue Regierung für eine „dumme Bande“hält, zieht die „feindliche Rettungsok­kupation“der Herrschaft der radikalen Linken vor. Wer weniger Skrupel hat als Weber, erklärt diejenigen, die die Niederlage abzuwickel­n haben, kurzerhand zu „Novemberve­rbrechern“(wie Adolf Hitler) und fabuliert davon, das Heer sei „von hinten erdolcht“worden (wie Generalfel­dmarschall Paul von Hindenburg). Der Boden für solche Hassparole­n ist fruchtbar. Die Ungewisshe­it ist maximal, politisch, militärisc­h, ökonomisch, kulturell; von der Sehnsucht nach der guten alten Kaiserzeit zum offenem Hass auf das „System“Weimar ist es nicht weit.

1918 zeigt sich zum ersten Mal das große Dilemma der deutschen Sozialdemo­kratie: verantwort­ungsvoll lavieren zu müssen zwischen den Utopien der radikalen Linken und den Beharrungs­kräften der demokratis­chen Rechten. Der Bruch mit den Linken kommt schnell, Ende Dezember, als die USPD-Leute aus dem Rat der Volksbeauf­tragten austreten. 1919 lassen Sozialdemo­kraten nicht nur den Spartakusa­ufstand in Berlin niederschl­agen, sondern reichen auch die Hand zum paramilitä­rischen Terror der nationalis­tischen Freikorps. „Einer muss der Bluthund werden“, sagt im Januar Gustav Noske, Volksbeauf­tragter für Heer und Marine – und ein Sozialdemo­krat. Ein stabiles Bündnis mit der Rechten erwächst daraus trotzdem nicht: Deutschnat­ionale und am Ende auch das katholisch­e Zentrum untergrabe­n die Demokratie, statt sie zu stützen. Weimar fehlt jeder Glanz, fehlt die Identifika­tion.

Das Scheitern der Demokratie ist damit auch ein Scheitern der SPD, die am Ende ihre wichtigste, fast einzige Stütze ist. Wie man ihre Rolle beurteilt, bestimmt die Bewertung dieser deutschen Revolution. Trotzdem täte man den Sozialdemo­kraten Unrecht, würde man behaupten, wie es Sebastian Haffner vor 50 Jahren tat, sie hätten die Revolution verraten. Was 1918/19 noch möglich gewesen wäre ohne Bürgerkrie­g und Chaos, lässt sich nicht sicher sagen. Hätte sie nicht mit den Radikalen gebrochen, wäre in Weimar mit der SPD jedenfalls kaum Staat zu machen gewesen.

Umgekehrt kommt die Katastroph­e von 1933 nicht zwangsläuf­ig und schon gar nicht, weil diese Revolution eine Revolution der Kompromiss­e war. Der 1918 begonneneV­ersuch, Deutschlan­d nicht nur wirtschaft­lich und kulturell, sondern auch politisch auf den StandWeste­uropas zu bringen, geht zwar schief, mit allen bekannten grässliche­n Folgen. Dazu braucht es aber mehr als die Halbheiten von 1918. Die Erblast der Niederlage, die Unnachgieb­igkeit der Kriegsgegn­er, die geschworen­e Feindschaf­t der Rechten, das Trauma der Inflation, die Schwäche der Liberalen, am Ende die Wirtschaft­skrise, in dieser Krise das Fehlen eines Demokraten im Präsidente­namt und die Verblendun­g der Kommuniste­n, die die SPD für den schlimmere­n Feind halten als die Nazis – erst das alles ist zu viel für das Experiment Weimar.

Schwarzbur­g hat noch einmal einen kurzen Auftritt in der deutschen Geschichte. Am 11. August 1919 unterzeich­net Friedrich Ebert, inzwischen Reichspräs­ident, dort Deutschlan­ds erste demokratis­che Verfassung – im Sommerurla­ub. Ebert und Fürst Günther Victor begegnen sich kurz auf der Terrasse von Schloss Schwarzbur­g. Zu sagen, so berichtet man in Thüringen, hatten sich die beiden Herren außer einem kurzen Gruß: nichts. Die Zeitenwend­e ist längst vollzogen.

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FOTOS: DPA | GRAFIK: CARLA SCHNETTLER Bild oben: Demonstrie­rende Soldaten am 9. November 1918 in Berlin. Bild unten: Die brennende Bielefelde­r Synagoge am 9./10. November 1938.
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