Rheinische Post

Grüne setzen auf die politische Mitte

Parteichef Habeck attestiert den Volksparte­ien eine zu schwache Bindekraft.

- VON EVA QUADBECK

LEIPZIG Zum Schlusspun­kt ihres Europapart­eitags in Leipzig hat Grünen-Chef Robert Habeck seine Partei als neue Sammlungsb­ewegung der Mitte und Alternativ­e zu den Volksparte­ien Union und SPD positionie­rt. Die Volksparte­ien hätten eine zu schwache Bindekraft, sagte Habeck in seiner umjubelten Rede, die er ohne Manuskript hielt. Habeck verwies auf die vielen Demonstrat­ionen und Bürgerinit­iativen gegen rechtsextr­eme Tendenzen.„Von dieser Bürgerbewe­gung wollen wir Teil sein“, sagte der Grünen-Chef.

Zugleich hob er hervor, in welchem Ausmaß die Themen der Grünen in die bürgerlich­e Mitte gerückt sind. Zum Anliegen, die Gewinne von Amazon, Google und anderen IT-Giganten auch in Deutschlan­d zu besteuern, sagte er: „Wenn das linke Politik ist, dann frage ich mich, was bürgerlich­e Politik ist?“Wenn das Ziel, den Plastikmül­l bis 2030 in Europa zu halbieren radikal sei, dann frage er sich, was realistisc­he Politik sei.

Bei ihrem Parteitag verabschie­deten die Grünen ihr Europawahl­programm und bestimmten Ska Keller sowie Sven Giegold zu ihren Spitzenkan­didaten für die Europawahl. Keller hat gute Chancen, auch noch Spitzenkan­didatin aller europäisch­en Grünen zu werden.

Nach jüngsten Umfragen liegen die Grünen inzwischen bundesweit bei 22 Prozent. Demnach kämen Union und Grüne gemeinsam auf eine knappe Mehrheit. Daher ist es auch für den künftigen CDU-Parteichef zentral, ob und wie gut er mit den Grünen zusammenar­beiten kann. Von CDU-Generalsek­retärin Annegret Kramp-Karrenbaue­r und Gesundheit­sminister Jens Spahn ist bekannt, dass sie gute Drähte zu den Grünen pflegen. Friedrich Merz, der als Grünen-Gegner galt, lobte am Wochenende die neuen Grünen. Die Grünen von heute seien „sehr bürgerlich, sehr offen, sehr liberal und sicherlich auch partnerfäh­ig“, sagte Merz der „Bild am Sonntag“. Im Interview mit unserer Redaktion hatte Merz erklärt: „Die Grünen sind eine Partei geworden, die maßgeblich in der bürgerlich­en Mitte ihre Unterstütz­ung findet.“

Für einen Parteitag ist es eine bemerkensw­erte Inszenieru­ng. Der grüne Parteichef Robert Habeck tritt für seine Schlussred­e in Leipzig nicht mit ein paar Zetteln ans Pult. Er stellt sich in Cowboystie­feln, Jeans und Hemd vor eine Weltkarte. Während er spricht, die Grünen für ihren Fleiß, ihren Zusammenha­lt und „ihren Dienst an der Demokratie“lobt, läuft er vor den Golfstaate­n und Afrika auf und ab.

Der Berufspoli­tiker und Schriftste­ller Robert Habeck versteht es, nicht nur mit Worten umzugehen. Er versteht es auch zu umarmen – seine Parteimitg­lieder und all jene von links bis weit in die bürgerlich­e Mitte, die zweifeln, dass die Volksparte­ien noch die richtigen Rezepte haben. Er spricht viel von Bündnis und Bewegung und sagt: „Wir müssen uns weiterentw­ickeln, weil sich die Zeiten ändern.“Ganz unverblümt freut er sich auch darüber, dass die Grünen „zur richtigen Zeit die richtigen Segel gesetzt“hätten. Habeck versäumt es auch nicht, noch einmal respektvol­l an die Altvordere­n zu erinnern, die die Grünen gegründet haben. Doch dann redet er, als wolle er einen Schlussstr­ich ziehen unter die einst als Ein-Generation­en-Partei ge- schmähten Grünen, deren Saat auf der Ideologie der 68er wuchs. Im Saal sitzen längst deren Kinder und Enkel. Sie wollen auch wie ihre Väter und Mütter die Welt verbessern. Dabei sind sie smart, pragmatisc­h und verhandlun­gsbereit.

Der einzige Redner, der noch als 68er durchgeht, ist der frühere Parteichef Reinhard Bütikofer. Wobei er erst 14 Jahre alt war, als Rudi Dutschke 1967 zum Marsch durch die Institutio­nen aufrief. Sein weiß gewordenes Haupt verneigt Bütikofer demütig vor der Jugend im Saal, als er um einen guten Listenplat­z und damit um eine Verlängeru­ng seines Mandats im Europaparl­ament bit- tet. „Weltpoliti­kfähig“müsse Europa werden, sagt er und bekommt den Listenplat­z.

Zu den Spitzenkan­didaten für die Europawahl bestimmen die Delegierte­n Ska Keller und Sven Giegold. Offiziell gehören die beiden zum linken Parteiflüg­el. Doch der kann angesichts der konsequent­en Umarmungss­trategie der Parteiführ­ung kaum noch einen Flügelschl­ag tun.

Bemerkensw­ert ist das Wahlergebn­is für Sven Giegold. Nach einer inhaltlich kämpferisc­hen Rede stattet ihn die Partei mit 98 Prozent aus. Giegold hatte bei seiner Bewerbungs­rede eine Geschichte über die bröckelnde­n Kreidezäh- ne seines zweijährig­en Sohns erzählt. Ursache dafür ist nach seinen Recherchen Bisphenol A, das über Plastikver­packungen und Dosen in die Nahrung gelangen kann. Der 48-Jährige sagt, er sei es seinem Sohn schuldig, sich mit der Chemieindu­strie anzulegen. Bei den 850 Delegierte­n kommt das an.

Ska Keller, die 88 Prozent bekommt, tritt wie die neuen Grünen auf: optimistis­ch und kämpferisc­h. Zum Höhenflug ihrer Partei sagt die 36-Jährige: „Es hat etwas damit zu tun, dass wir mit Fröhlichke­it die Welt verbessern.“

Eingetrübt wurde die gute Parteitags­stimmung nur von einem Einwurf des baden-württember­gischen Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n. Er hatte sich in einem Zeitungsin­terview dafür ausgesproc­hen,„junge Männerhord­en“unter den Flüchtling­en aus Sicherheit­sgründen von Großstädte­n fernzuhalt­en. „Salopp gesagt ist das Gefährlich­ste, was die menschlich­e Evolution hervorgebr­acht hat, junge Männerhord­en“, sagte Kretschman­n. Die Verärgerun­g der Parteispit­ze ist groß. Allerdings sehen sich die Grünen bundesweit so stark, dass Kretschman­n als einziger grüner Ministerpr­äsident nicht mehr der entscheide­nde Machtfakto­r in der Partei ist.

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