Denn wir sind alle nur die Kandidaten
Tschechows „Onkel Wanja“wird am Düsseldorfer Schauspielhaus als grandiose TV-Show persifliert.
DÜSSELDORF Es kommt alles vor: das peinlich galante Eröffnungstänzchen des Moderators, sein Dank für „den warmen Applaus“, die herausgeputzte Assistentin, unbeholfene Kandidaten, Glücksrad, Schaumstoffwürfel, Buzzer, Quizfragen zu tickender Zeituhr, Werbung für die Langspielplatte und all die Versatzstücke jener guten alten Fernsehzeit, als Shows noch mit hymnischen Eurovisionsklängen begannen und die ganze Familie zu Käsebrot und Gürkchen vor der Flimmerkiste saß.
Die Hamburger Theatermacher Barbara Bürk und Clemens Sienknecht inszenieren am Düsseldorfer Schauspielhaus zur besten Sendezeit „Wonkel Anja – die Show!“, eine aus hunderten Fernsehstunden fein gesampelte, musikalisch raffiniert arrangierte und liebevoll ausgestattete Persiflage der „große Fernsehunterhaltung“aus den 1960er bis 1980er Jahren. Doch bleibt es nicht bei der satirischen Wiederbelebung biederen TV-Vergnügens aus bundesrepublikanischer Nachkriegszeit. Bürk und Sienknecht interessieren sich für das, was die inszenierte Fröhlichkeit aus dem Fernsehstudio überdecken sollte, für verdrängte Schuldgefühle, erschöpften Lebenssinn, den Hunger der Deutschen nach Normalität. Und sie haben ein Äquivalent dafür ausgemacht: die an lähmender Langeweile und Lebensbitterkeit leidenden Figuren von Anton Tschechow. So kreuzen sie dessen Stück „OnkelWanja“mit ihrem Show-Hybrid, machen es ihren Quiz-Kandidaten zur Aufgabe, in Tschechows Figuren zu schlüpfen und mit jeder Spielerunde einen weiteren Akt des Landgut-Dramas zu erzählen.
Das ist ein intelligentes Vergnügen. Immer neue absurde Elemente aus den Tiefen deutscher TV-Unterhaltung geben der Show frische Impulse, obwohl sich auch auf der Bühne irgendwann dieses Gefühl von Redundanz und Leerlauf einstellt, das man von Quizformaten kennt. Zugleich gewinnen die Charaktere der Kandidaten und ihre Rol- len bei Tschechow an Kontur, und weil sie ständig Lieder singen sollen, ist das Ganze auch noch eine sängerisch höchst anspruchsvolle Revue. Clemens Sienknecht hat die musikalische Leitung und steht als singender Moderator auf der Bühne, ist ein wundervoll sarkastischerVerschnitt aus Kuhlenkampff, Rosenthal, Thoelke, Carell und wie sie alle heißen. Die tapfer auf charmant getrimmte Lieke Hoppe lacht als seine Assistentin jede Anzüglichkeiten hinweg, selbst, als sie als Teekanne verkleidet die Punkte addieren muss (Bühne und Kostüm: Anke Grot). Der Rest des grandiosen Ensembles verkörpert Kandidaten-Urtypen: Hanna Werth gibt das hübsche Fräulein im Lady-Di-Stil, Claudia Hübbecker die gebildete Eifrige, ThomasWittmann den sympathischen Unbeholfenen, Thiemo Schwarz den jovialen Professor, Torben Kessler den gekränkten Streber. Doch sie sind eben noch mehr: Sie streifen die Tschechow-Figuren über ihre Kandidaten-Rollen, überblenden die Charaktere, und schmettern die großen Hits der Show-Ära. Grandios wie jeder auf seine Art Ohrwürmer von Whitney Houston bis Joe Cocker interpretiert. Die Lieder sind in dieser Show eben keine Zwischenmusik, sondern Mittel der Figuren, mehr von sich zu erzählen.
Natürlich kann man fragen, ob die Verbindung von russischer Melancholie und brüchigem deutschen Fernseh-Glück wirklich zwingend ist. Die Onkel-Wanja-Figuren sehnen sich ja fort aus dem Einerlei der Provinz, während sich das deutsche TV-Publikum in der behaglichen Langeweile der Rateshows gerade wohlfühlte. Hinter beidem aber lauert die Leere des Seins, die Möglichkeit, dass alles Streben des Menschen sinnlos ist. Indem die Wonkel-Show Kandidaten zeigt, die sich in absurden Spielen abrackern, erzählt sie hinter all dem Gebuzzer, Gekicher und Geplauder von der Zumutung des Menschseins. Das macht diesen Abend so tragisch. Und so komisch. Genau wie bei Tschechow.