Hoffnung für eine Handvoll Leben
Im Evangelischen Krankenhaus haben auch Babys eine Überlebenschance, die extrem früh auf die Welt kommen. Wie Johann und Jakob.
Sie sind eine glückliche Familie: Than und Christoph Steiner mit ihren beiden Söhnen Johann (4) und Jakob (1). Selbstverständlich ist das nicht, sie haben es sich hart erkämpfen müssen, dieses Glück. Denn der Start ihrer Kinder ins Leben war schwierig. Jedes zehnte Baby kommt zu früh auf die Welt, aber nur wenige sind extreme Frühchen, die nur durch modernste Technik, medizinisches Knowhow und hochqualifiziertes Pflegepersonal am Leben erhalten werden. Wie Johann. Und wie Jakob.
Wenn sie erzählen, ist auch heute noch ihre Anspannung von damals spürbar. 2014 freuten sich Than und Christoph Steiner auf ihr erstes Kind, alles schien ganz normal zu verlaufen. Bis die künftige Mutter in der 21. Schwangerschaftswoche zur Kontrolluntersuchung ging und sah „wie die Gynäkologin plötzlich ganz blass wurde.“Denn sie konnte bereits das winzige Kinderköpf- chen sehen, der Muttermund hatte sich geöffnet, die Geburt war praktisch eingeleitet. Than Steiner kam sofort ins Evangelische Krankenhaus, wo sie zweierlei bekam: Medikamente, um die Geburt aufzuhalten und die strikte Anweisung, im Bett liegen zu bleiben. Dort wurde auch festgestellt, dass die 33-Jährige eine unentdeckte Infektion hatte, eine der häufigen Ursachen für Frühgeburten.
Dem Ärzte-Team gelang es, den Geburtstermin noch drei Wochen hinauszuzögern, bis zur 24. Woche. „In dieser Situation zählt jeder Tag, der das Kind etwas mehr reifen lässt“, erläutert Dr. Johanna Bialas, Leiterin der Klinik für Frühund Neugeborenenmedizin und des Perinatalzentrums, dort haben auch extreme Frühchen eine Überlebenschance. Aber ab wann ist ein Kind lebensfähig? Eine allgemeingültige Antwort gibt es darauf nicht. Das Gesetz schreibt vor, dass Ärzte alles tun müssen um ein Kind zu retten, das ab der 24. Schwangerschaftswoche geboren wird. Aber davor? Mediziner sprechen von einer Grauzone, in der letztlich die Eltern entscheiden müssen, in enger Abstimmung mit ihren Ärzten – zwischen Menschlichkeit und den Möglichkeiten der Medizin.
Than und Christopher Steiner blieb diese Entscheidung glückerweise erspart: Ihr Baby hatte die 24. Woche erreicht. Immerhin. Aber was mögen die beiden empfunden haben, an diesem 19. August 2014, als sie ihr Kind sahen, gerade mal 560 Gramm schwer (etwa so viel wie zwei Päckchen Butter), so winzig, mit hauchdünnen Ärmchen, streichholzzarten Fingern, angeschlossen an Beatmungsgeräte. Eine Handvoll Mensch. „Ich kriege heute noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke“, sagt Than Steiner. Und erinnert sich an jede Kleinigkeit, an die Windeln für ihren Sohn, „selbst die winzigsten waren viel zu groß für ihn“.
So begann ihre Zeit zwischen Hoffnung und Angst. Man sagte ihnen, dass die ersten 24 Stunden entscheidend sind. Dann die ersten drei Tage.„Wir haben von Stunde zu Stunde gelebt, von Tag zu Tag.“An seinem zweiten Lebenstag bekam Johann eine Gehirnblutung, musste operiert werden. Und überlebte. Später bekam er eine Lungenentzündung. Und überlebte. Die ersten fünf Monate seines Lebens verbrachte er in Krankenhäusern, als er nach Hause durfte, war er immer noch abhängig von Sauerstoffgeräten.„Unser Zuhause glich einer Klinik, wir schliefen neben Monitoren“, erinnert sich Than Steiner. Und ihr Mann ergänzt: „Aber man wächst da rein. Irgendwie.“
Heute ist Johann vier Jahre alt. Er wurde bisher neun Mal operiert, allein zwei Mal an den Augen wegen einer Netzhautveränderung. Er muss immer noch oft zu Ärzten, hat erst vor einem Jahr gelernt, selbstständig zu laufen. Er geht zur Physiotherapie, zur Sprachtherapie, zur Frühförderung. Aber er holt auf. Ein temperamentvoller Junge, voller Energie: Lebensfreude auf zwei Beinen. „Er ist ein glückliches
„Unser Zuhause glich einer Klinik, wir schliefen neben Monitoren.“Than Steiner Mutter
Kind“, sagt sein Vater. – Vor gut einem Jahr hat Johann einen kleinen Bruder bekommen: Jakob. Auch er ist viel zu früh auf die Welt gekommen, in der 26. Woche. Sein Gewicht bei der Geburt: 850 Gramm. Wieder ein Leben zwischen Sorgen und Hoffnung. „Man fragt sich immer wieder: wieso wir? Und findet keine Antwort“, meint Than Steiner. Richtig schuldig habe sie sich manchmal gefühlt, obwohl sie genau gewusst habe, dass sie während ihrer Schwangerschaften alles richtig gemacht hatte, vor allem beim zweiten Mal übervorsichtig war. Ulrike Atkins, Seelsorgerin am Evangelischen Krankenhaus, erlebt solche Gefühle bei Müttern immer wieder. Sie begleitet, unterstützt, tröstet und stärkt Eltern – auch in der Überzeugung: Was sie erleben, ist Schicksal, fern irgendwelcher Schuld.
Familie Than hat ihren Weg gefunden. Johann ist auf einem gu- ten Weg, Jakob entwickelt sich trotz Schwierigkeiten zu Beginn seines Lebens (er brauchte vorübergehend einen künstlichen Darmausgang, weil bei seiner Geburt das Organ noch nicht ausreichend entwickelt war) mittlerweile normal. „Bei ihm sieht man, welche gravierende Rolle die zwei Wochen spielen, die er länger im Bauch seiner Mutter war als sein älterer Bruder“, so Ärztin Bialas. Die Familie ist in die Nähe des Krankenhauses gezogen, aus Sicherheitsgründen, „wir haben da ja eh
ein Abo“, meint Christoph Steiner lachend. Ganz langsam erleben sie so etwas wie Normalität. „Wir haben halt andere Maßstäbe im Leben.“Und die dunklen Wolken, die hätten sich inzwischen verzogen. Meistens.