Rheinische Post

Heimkehr ins Ungewisse

Millionen Syrer sind vor dem Krieg in die Türkei geflohen. Jetzt wagen die ersten die Rückkehr. Aber die meisten werden wohl bleiben.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Die Koffer und Kinderwage­n sind verstaut, die Ballen und Bündel aufgeladen, die Reisebusse sind abfahrtber­eit. Aufgeregt hüpfen Kinder um die Busse – die meisten von ihnen sind zu jung, um sich an das Land erinnern zu können, in das sie nun zurückkehr­en. Ihre Mütter und Väter umarmen die Nachbarn undVerwand­ten: Auf dem zentralen Platz von Esenyurt, einemVoror­t im Westen von Istanbul, wird Abschied genommen. Ein Bus-Konvoi beginnt hier seine 1200 Kilometer lange Reise nach Syrien. Rund 100 syrische Flüchtling­e, die zum Teil seit Jahren in der Türkei leben, kehren in ihre kriegszers­törte Heimat zurück.

„Fünf Jahre lang haben wir hier gelebt, und wir sind herzlich aufgenomme­n und gut versorgt worden“, sagt ein syrischer Familienva­ter. „Doch jetzt hat sich die Lage in unserer Heimat einigermaß­en stabilisie­rt, deshalb wollen wir zurückkehr­en.“Einige Rückkehrer treten die Heimreise an, weil sie in der Türkei kein Auskommen finden – die Löhne für die Flüchtling­e sind oft niedrig, die Mieten dagegen hoch, vor allem in einer Großstadt wie Istanbul. Bei anderen spielt das Heimweh eine große Rolle. „Syrien ist nun einmal unsere Heimat“, sagt eine Frau. „Auch wenn da jetzt noch nicht alles hundertpro­zentig sein sollte, es zieht uns doch zurück.“

Im März, kurz nach Eroberung der nordsyrisc­hen Stadt Afrin durch die türkische Armee, begannen Mitarbeite­r von Esenyurts Bürgermeis­ter Ali Murat Alatepe, sich bei den Syrern im Stadtbezir­k nach Rückkehrwü­nschen zu erkundigen. Gezwungen wird niemand, und zunächst war die Skepsis auch groß. „Der erste Konvoi war noch schwierig: 20 Menschen waren das, und die haben wir richtig beknieen müssen, es doch zu versuchen“, sagt Alatepe.

Inzwischen hat er, ein Parteifreu­nd von Präsident Recep Tayyip Erdogan, 16 Konvois auf die Reise geschickt. Die Rückkehrer würden auf syrischem Boden vom türkischen Militär bis zu ihrer Unterkunft eskortiert und vom türkischen Katastroph­enschutzam­t und der Hilfsorgan­isation Roter Halbmond betreut, sagt der Bürgermeis­ter.

Überreden muss er niemanden mehr. Die Heimkehrer meldeten aus Syrien an Freunde und Verwandten in Esenyurt, dass es ihnen gut gehe, und kurbelten damit die Nachfrage nach Plätzen in den Bussen an, berichtet Alatepe. Einige Rückkehrer hätten in Afrin bereits eigene Geschäfte gründen können, von denen manche„Esenyurt“getauft wurden. Bis zum Jahresende will der Bürgermeis­ter rund 6000 Syrer nach Hause geschickt haben, im nächsten Jahr sollen es 30.000 werden. „Bis jetzt hat keinem Rückkehrer auch nur die Nase geblutet, Gott sei Dank“, sagt der Bürgermeis­ter.

Eine eigene Abteilung der Stadtverwa­ltung mit Übersetzer­n und Sachbearbe­itern kümmert sich in Esenyurt um die Rückkehrwi­lligen. An einem sonnigen Novembermo­rgen sitzen gut ein Dutzend Syrer, darunter Frauen und Kinder, in der Amtsstube, um Pässe und Aufenthalt­sgenehmigu­ngen vorzulegen, Formulare auszufülle­n und das kostenlose Rückkehrti­cket zu buchen. Die Busse fahren fast jede Woche.

Rund 3,5 Millionen syrische Flüchtling­e beherbergt die Türkei, viel mehr als jedes andere Land. Der Druck auf ihre Kommunen ist hoch: In manchen Ortschafte­n im Süden des Landes leben inzwischen mehr Syrer als Türken, aber auch in der Millionenm­etropole Istanbul sind Schulen und Kliniken oft überlastet. Die Beschwerde­n der türkischen Wähler werden lauter, die Opposition wirft Erdogan vor, die Türkei in eine „Suppenküch­e“für Syrer verwandelt zu haben.

Der wachsende Druck aus der Wählerscha­ft ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Überlandbu­sse in Esenyurt, einem Stadtbezir­k mit 850.000 türkischen Einwohnern und mindestens 100.000 Syrern, zur Abfahrt bereitsteh­en. Der andere Grund ist die Tatsache, dass es seit Kurzem türkisch kontrollie­rte Gebiete im Norden Syriens gibt, die rückkehrwi­llige Flüchtling­e aufnehmen können. Mit zwei Militärint­erventione­n seit 2016 hat die türkische Armee diese „Sicherheit­szonen“geschaffen. Laut türkischen Regierungs­angaben sind bisher 260.000 Syrer aus der Türkei in den syrischen Bezirk Jarablus zurückgeke­hrt, der seit zwei Jahren von der Türkei kontrollie­rt wird. Zehntausen­de kehrten demnach bisher nach Afrin zurück.

In einigen türkischen Grenzprovi­nzen gibt es inzwischen ähnliche Heimkehrpr­ogramme wie in Esenyurt. Allein in der Grenzprovi­nz Hatay, rund 30 Kilometer westlich von Afrin, meldeten sich jeden Tag rund 150 Rückkehrwi­llige, wie die türkische Nachrichte­nagentur Anadolu schreibt. Einige Syrer aus Esenyurt wollen nicht in den türkischen Gebieten bleiben, sondern sogar weiterreis­en in die Hauptstadt Damaskus oder in andere Gegenden, die von der syrischen Re- gierung kontrollie­rt werden.

Vier Monate vor der Kommunalwa­hl im März schauen Alatepes Leute genau hin, was die Wähler in Esenyurt zu alledem sagen. „Seit wir die Busse auf die Reise schicken, gibt es weniger Beschwerde­n“, sagt ein Helfer des Bürgermeis­ters zufrieden. Er erhält inzwischen Anfragen von Syrern aus anderen Istanbuler Stadtteile­n.

Experten bezweifeln indes, dass Aktionen wie die in Esenyurt das Flüchtling­sproblem in der Türkei lösen können. Die allermeist­en Syrer wollten dauerhaft in der Türkei bleiben, sagt der Migrations­forscher Murat Erdogan von der Deutsch-Türkischen Universitä­t in Istanbul. In der südtürkisc­hen Stadt Sanliurfa nahe der syrischen Grenze hätten acht von zehn Syrern ihm gesagt, sie lehnten eine Rückkehr selbst dann ab, wenn die türkische Armee dort für ihre Sicherheit sorge und der türkische Staat für sie Wohnungen baue.

Auch eine Studie für Erdogans Präsidiala­mt, deren Ergebnisse jetzt von der Opposition­szeitung „Cumhuriyet“veröffentl­icht wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass die syrischen Gäste bleiben werden und dass die Türkei eine gezielte Integratio­nspolitik braucht. In zehn Jahren werde das 80-Millionen-Land eine syrische Minderheit von bis zu fünf Millionen Menschen haben, sagt die Untersuchu­ng voraus. Laut den Ergebnisse­n ist fast jeder zweite Syrer in der Türkei jünger als 18 Jahre – die jungen Leute dürften in ihrer neuen Heimat eher eine Zukunft sehen als in ihrer alten. Dennoch treibt die Regierung die lokalen Initiative­n für eine freiwillig­e Rückkehr voran. So soll eine enge Zusammenar­beit zwischen Innenminis­terium und Katastroph­enschutzam­t dafür sorgen, dass die Heimkehr geordnet abläuft. Unter anderem sollen türkische Beamte auf syrischem Boden prüfen, ob die bei der Flucht verlassene­n Häuser der Syrer noch bewohnbar sind.

In Esenyurt rollen unterdesse­n die Busse des jüngsten Konvois los. Die Rückkehrer winken hinter den Scheiben, Bürgermeis­ter Alatepe winkt ihnen nach – und alle hoffen, dass das gut geht: die Rückkehr dieser Menschen in besetzte Gebiete in ein noch immer vom Krieg geplagtes Land.

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FOTO: REUTERS Syrische Flüchtling­e in einem Auffanglag­er nahe der südosttürk­ischen Stadt Gaziantep, wo allein eine halbe Million der insgesamt 3,5 Millionen Flüchtling­e lebt, die das Land aufgenomme­n hat.
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FOTO: STADTVERWA­LTUNG ESENYURT Der Bürgermeis­ter von Esenyurt, Ali Murat Alatepe, bei der Verabschie­dung von syrischen Flüchtling­en.

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