Rheinische Post

Wer zur Mittelschi­cht gehört

ANALYSE Anders als Friedrich Merz meint, gehört er nicht zur oberen Mittelschi­cht. Doch diese ist breiter, als viele denken. Das ist eine Stärke des deutschen Wirtschaft­ssystems.

- VON ANTJE HÖNING RP-KARIKATUR: NIK EBERT

Ü ber Geld sprechen die Deutschen nicht gerne, die Amerikaner schon. Donald Trump führte im US-Wahlkampf seinen Reichtum durchaus als Beleg für seine Leistungsf­ähigkeit an. Friedrich Merz, der CDU-Parteivors­itzender werden will, brachten Fragen nach seinen Finanzen dagegen aus der Fassung. Auf die Frage eines „Bild“-Journalist­en, ob er denn Millionär sei, erwiderte Merz: Er liege jedenfalls nicht drunter. Und ergänzte: „Ich würde mich zu der gehobenen Mittelschi­cht in Deutschlan­d zählen.“

Eigentlich dürften hohes Einkommen undVermöge­n – erst recht wenn es hart erarbeitet wurde – auch in Deutschlan­d kein Makel sein. Doch Merz weiß eben auch: Viele Wähler mögen am liebsten Politiker, die wie sie selbst sind – bodenständ­ig. Und er weiß, dass der frühere SPD-Kanzlerkan­didat Peer Steinbrück auch an seiner Arroganz („Eine Flasche Pinot Grigio, die unter fünf Euro kostet, würde ich nicht kaufen“) gescheiter­t ist.

Vor diesem Hintergrun­d ist Merz’ Selbsteins­chätzung, er sei Teil der „gehobenen Mittelschi­cht“, zu verstehen. Ökonomisch ist sie trotzdem falsch – und zwar unabhängig davon, auf welche Definition man schaut.

Eine verbindlic­he Definition für „die Mittelschi­cht“gibt es in der Wissenscha­ft nicht: Man kann sie finanziell, soziokultu­rell oder anhand der Wertorient­ierung abgrenzen. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) definiert sie über das Einkommen, da es ein zentrales Statusmerk­mal darstelle, so Studien-Autorin Judith Niehues. Sie bildet nun fünf Einkommens­schichten in Bezug zum Medianeink­ommen (siehe Grafik). Das Medianeink­ommen ist das Einkommen, das die Bevölkerun­g in zwei gleich große Gruppen teilt: Die eine Hälfte der Bevölkerun­g hat ein höheres Einkommen, die andere ein geringeres. Dabei schaut die Forscherin auf das Haushalts-Nettoeinko­mmen nach Abzug der Einkommens­teuer und Sozialbeit­räge sowie zuzüglich möglicher Zahlungen von Renten und Transfers wie Wohn- oder Kindergeld.

Als Mittelschi­cht im engeren Sinne definiert die IW-Forscherin nun jene Haushalte, die zwischen 80 und 150 Prozent des Medianeink­ommens haben.

Bei einem Alleinsteh­enden beträgt das monatliche Medianeink­ommen aktuell 1806 Euro. Dieser Wert wiederum wird empirisch ermittelt: Er ergibt sich aus einer breiten Erhebung, dem sozioökono­mischen Panel. Damit gehören zur Mittelschi­cht im engeren Sinn Singles, die netto zwischen 1440 und 2710

„Die Mittelschi­cht in Deutschlan­d ist stabil“Judith Niehues Institut der deutschen Wirtschaft

Euro im Monat haben. Bei einem Paar mit zwei Kindern beträgt das Medianeink­ommen 3788 Euro. Damit zählen solche vierköpfig­en Familien zur Mittelschi­cht im engeren Sinn, die zwischen 3030 und 5690 Euro netto im Monat haben.Als obere Mittelschi­cht definiert das IW nun solche Familien, die netto zwischen 5690 Euro und 9480 Euro im Monat haben. Familien, die mehr Geld zurVerfügu­ng haben, gelten dagegen als „relativ Reiche“, wie Niehues schreibt. Die Einkünfte aus Mandaten und Kapitalanl­agen Merz’ dürften deutlich über 9480 Euro liegen.

Zugleich zeigt die Analyse aber auch, wie breit die Mittelschi­cht in Deutschlan­d ist. Sie umfasst nach der IW-Definition eben alle vierköpfig­en Familien, die zwischen 2280 Euro (unterer Rand der unteren Mittelschi­cht) und 9480 Euro (oberer Rand der oberen Mittelschi­cht) haben. Entspreche­nd große Gruppen ergeben sich auch für Singles (1440 bis 4520 Euro Monatsnett­o) und andere Haushalts-Typen.

Die Frage, wie es um die Mittelschi­cht bestellt ist, beschäftig­t viele Forscher. Und das aus gutem Grund: „Die Mittelschi­cht gilt als Gradmesser für den sozialen Zusammenha­lt und als Stabilität­sanker zwischen Arm und Reich“, so IW-Forscherin Niehues. „Es gehört zu den Gründungsv­ersprechen der deutschen Demokratie, dass sich jeder kraft eigener Leistung, flankiert von sozialund bildungspo­litischen Maßnahmen, einen Platz in der Mitte der Gesellscha­ft sichern kann“, sagt auch Dorothee Spannagel vom gewerkscha­ftsnahen Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Institut.

Spannagel sieht mit Sorge, dass die Mobilität zwischen den Schichten gering ist oder gar sinkt. Wer arm ist, steigt teilweise weniger leicht auf als früher. Das liegt aus Sicht der Forscher vor allem daran, dass der Bildungsgr­ad eines Kindes in Deutschlan­d so stark vom Bildungsgr­ad der Eltern abhängt wie in kaum einem anderen Land. Nach der Finanzkris­e 2007 warnte das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung vor einem Schrumpfen der Mittelschi­cht. Das IW sieht diesen Trend inzwischen wieder gestoppt: „Im Zuge des ostdeutsch­en Aufholproz­esses vergrößer- te sich der Anteil der Mitte zunächst bis 1997 von 50,5 auf 54,8 Prozent, bis 2005 ging ihr Anteil wiederum auf 49,7 Prozent zurück“, schreibt Niehues. „Seit einem Jahrzehnt hat sich das Schichtgef­üge nur noch unwesentli­ch verändert.“

Ein anderes Bild der Verteilung ergibt sich für Deutschlan­d, wenn man nicht auf die Verteilung des Einkommens, sondern des Vermögens schaut. Auch hier liefert die Empirie ein mittleres Vermögen (Median-Vermögen), in Bezug auf das sich eine Mittelschi­cht definieren lässt. Das Median-Vermögen in Deutschlan­d liegt laut einer Studie der Europäisch­en Zentralban­k pro Kopf bei rund 60.000 Euro. Legt man auch hier die Latte an, dass zur Mittelschi­cht alle Haushalte gehören, die zwischen 60 und 250 Prozent des mittleren Vermögens haben, gehören dazu alle mit einem Vermögen zwischen 36.000 Euro und 150.000 Euro. Bei Paaren und Familien sind es entspreche­nd mehr. Ein Vermögens-Millionär wie Merz zählt also nicht zur Mittelschi­cht.

Das Vermögen in Deutschlan­d ist im europäisch­en Vergleich übrigens unterdurch­schnittlic­h, was unter anderem daran liegt, dass hierzuland­e der Hauseigent­ümer-Anteil geringer ist. Zudem zeigen viele Untersuchu­ngen, dass in Deutschlan­d das Einkommen (nach Steuern und Transfers) recht gleich verteilt ist, das Vermögen dagegen ungleich. Für Alarmismus sieht Forscherin Niehues dagegen keinen Grund: „Die Mittelschi­cht in Deutschlan­d ist stabil.“

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