Tief im Western
Mit „The Ballad of Buster Scruggs“legen die Coen-Brüder eine herrlich schräge Hommage an den Wildwestfilm vor. Sie läuft bei Netf lix.
MONUMENTVALLEY Natürlich konnte man das tun: in den 1860er Jahren mutterseelenallein und lauthals Lieder schmetternd durch die Canyons desWildenWestens reiten. Bloß nicht sehr lange.
Entsprechend bange wird einem um den titelgebenden Herrn, der den Episodenfilm „The Ballad of Buster Scruggs“breit grinsend eröffnet – in einem schneeweißen Anzug samt passendem Hut sowie einer Gitarre, die er anstelle etwa eines Gewehrs in Händen hält und während des Ritts enthusiastisch bearbeitet.
Bis er einen Steckbrief hervorzieht, der nicht nur seine Segelohren zeigt, sondern auch den Rest seines Gesichts, und dazu das klassische „Wanted – Dead or Alive“. Ehrlich betrübt und herrlich hochgestochen klagt er über das Missverständnis, das seinem Spitznamen „Der Misanthrop“zugrunde liegen müsse – und beweist sodann, dass seine Schüsse genauso scharf sind wie seine Zunge. Scruggs ist beileibe kein Kanonenfutter, sondern eine unwahrscheinliche Mischung aus Exzentriker, Entertainer und, jawohl, Revolverheld.
Klingt bekloppt und ist es auch, aber auf höchstem Level. Vertrauen Sie der Jury des Filmfestivals von Venedig, die den Coen-Brüdern den Preis für das beste Drehbuch verlieh.
Buster, der ballerfreudige Balladier, reiht sich nahtlos ein in das Ensemble der skurrilen Figuren, die das geniale Brüderpaar in ihren Kultfilmen wie „The Big Lebowski“und „Fargo“schuf. Und auf dieses laute, durchgeknallte, fast helgeschneidereske Stück Parodie folgen fünf weitere Kurzfilme – untereinan- der unterschiedlich, aber im Schnitt trockener, düsterer und subtiler surreal. Alle basieren auf Kurzgeschichten der Coen-Brüder aus den vergangenen Jahrzehnten. Bereits zwei Mal hatten sie sich zuvor diesem Genre auch filmisch gewidmet, zunächst im Neo-Western „No Country for Old Men“(2007) und dann im schnörkelloseren „True Grit“(2010).
Der aktuelle, rund 130 Minuten lange Film hätte eigentlich eine Mini-Serie werden sollen, aber die je kürzere Laufzeit tut den Folgen gut. Denn letztlich sind es „nur“Parabeln, aufs Wesentliche reduziert.
An kreativen Varianten der klassischen Schauplätze – einer Bank mitten im Nirgendwo etwa – lernen die archetypischen Figuren fürs Leben, das oft eher ein Rest-Leben ist, manchmal nur noch einige Millisekunden lang. Lektionen über Hochmut sowie die Härte des Lebens und ihrer Mitmenschen, über Akte von Gewalt und Gnade, Gier und Güte. Beeindruckend sind nicht nur die neuen Aspekte, die die Coens dem Ganzen durch ihren ganz eigenen Blick für Tragikomik und Pointen abgewinnen, sondern auch die Dichte und Intensität des Dargestellten.
Auf Planwagentrecks und in Bordellen zwischen New Mexico und Oregon wird geraucht und gesoffen, geflucht und gespielt, geträumt und gelitten, getanzt und geritten, geschossen und gehenkt. Gewalt bricht hier nicht nur eruptiv aus; vor allem bricht sie ein in den Alltag der müden, staubigen Menschen. Die Coens zeigen all das ungeschönt, aber mit einer Grundzuneigung zu ihren Charakteren, die ihre Gründe haben, zu tun, was sie tun.
Liebevoll kehrt die Kamera von Bruno Delbonnel („Die fabelhafte Welt der Amélie“) nicht nur immer wieder zum spektakulär deplatzierten Hundewelpen eines Pioniers zurück. Sie würdigt auch die Geste des zerzausten Goldgräbers, der nach arger Kletterei und einigem Hadern schließlich nur eines der vier Vogeleier aus einem Nest stiehlt. Diese kleinen, stillen Momente stehen gleichberechtigt neben der lauten, blutigen, letztlich sexy Action. Wenn einer stirbt, wird ein paar Augenblicke lang geschwiegen. Aber sehr bald sagt jemand Sätze wie „Er ist tot. Ich hole einen Spaten.“
Ein unmarkiertes Grab in der Prärie ist nicht viel. Aber sehr viel besser, als von Geiern gefressen zu werden.
„The Ballad of Buster Scruggs“ist ab sofort bei Netflix zu sehen.