Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Das war die bittere Ironie – eine Frau, die sexuell keine Grenzen kannte, agierte außerhalb des Betts als Grenzpolizistin. Jenny war Historikerin wie er, aber voller marxistischer Theoriehörigkeit. Auch jetzt wollte sie ihm beweisen, dass sie immer im Recht gewesen war. Er fand diesen Kampf bizarr. Sie hatte seit Jahren nichts mehr von wissenschaftlichem Wert publiziert, und seine Bücher waren preisgekrönt. Seiner Meinung nach war die Sache entschieden.
Im Grunde hatte Jenny sechsmal das gleiche Buch geschrieben. Anfang und Ende unterschieden sich natürlich, aber der Mittelteil drehte sich immer um die einzige Idee, die sie je gehabt hatte. Das Resultat war ganz nach Truman Capotes Bonmot „Nicht schreiben, sondern tippen“. Er fragte sich, was in ihrem Leben derart schiefgelaufen war, dass sie mittlerweile alles und alle hasste. Als er sie kennengelernt hatte, war davon nichts zu erahnen gewesen, damals hatte ihr brennender Ehrgeiz ihn manchmal genervt, aber den hatten alle in dieser Stadt, er hielt den Motor am Laufen.
Während er vorgab, ihrem Monolog über Studiengebühren zuzuhören, versuchte er sich auf den zweiten Gang zu konzentrieren. Er hatte schon früh erkannt, dass das einzig Gute an dieser Abendeinladung das Essen sein würde.Was waren die Zutaten der Sauce? Ganz wenig Sahne. Senf? Vielleicht Thymian?
Er konnte sich nur schwer konzentrieren, weil Jenny immer noch quasselte. Sie hatte nie Ahnung von gutem Essen gehabt und schien auch den Fisch nicht zu schätzen. Stattdessen streute sie jetzt jede Menge Salz darüber. Geschmack war wirklich nie ihre Stärke gewesen. Nicht nur beim Essen hatte sie das immer wieder bewiesen. Hunt erinnerte sich an einen ihrer peinlichen feministischen Blogs, in dem sie ihrer begrenzten Leserschaft mitgeteilt hatte, dass sie die Männer aufgegeben habe – wahrscheinlich, nachdem sie von ihnen aufgegeben worden war. Und wie sie jetzt wieder nach dem Salz griff, das war nicht nur ein kulinarisches Verbrechen, es war auch eine fast altjüngferliche Bewegung. Sie hatte ganz offensichtlich schon lange keinen Sex mehr gehabt; um das zu erkennen, musste man nicht ihre Blogs lesen. Es war für jedes geschulte Auge eindeutig.
Mit sechzig die Männer aufzugeben war sicher ein reichlich später Entschluss gewesen. Eine gute Party sollte man immer als Erster verlassen. Trotzdem hatte er den Eindruck, dass sie sich gegen die Tragweite dieser Entscheidung innerlich immer noch wehrte. In diesem Punkt empfand er fast Mitleid mit ihr. Frauen in Jennys Alter hatten in dieser Gesellschaft keinen guten Stand. Sie waren in der Regel übellaunige Kreaturen, und sie hatten allen Grund dazu. Von Männern wurden sie nicht einmal mehr in Notfällen wahrgenommen. Der endgültige Verlust ihrer sexuellen Attraktivität musste für diese Frauen einem Todesurteil gleichkommen, und sie schienen alle Phasen der Trauer durchzumachen: die anfängliche Ungläubigkeit, wenn Männer einfach durch sie hindurchsahen, dann die Wut, wenn ihnen keiner mehr zuhörte, als Nächstes die Resignation über die eigene Unbedeutsamkeit, bis irgendwann endlich die Akzeptanzphase einsetzte.
Jenny war definitiv noch in der Wutphase, und er konnte nicht darauf hoffen, dass sie an diesem Abend die Akzeptanzphase erreichen würde. Dabei hatte er nichts gegen Frauen ihres Alters. Sie waren in der Regel dankbar für jegliche Aufmerksamkeit und – solange sie nicht in die Esoterik abdrifteten – als Gesprächspartnerinnen immer noch unterhaltsamer als zwanzigjährige Studentinnen. Er selbst hatte nie ein Interesse an „femmes fragiles“gehabt. Anne, seine derzeitige Freundin, war fünfundvierzig Jahre alt, und an manchen Tagen sah man ihr das durchaus an. Nach den Sommerferien konnte sie aussehen wie eine Dreißigjährige, und erst wenn das Semester begann, verausgabte sie sich für ihre Studenten dermaßen, dass sie kurz vor Weihnachten die fünfzig überschritten hatte. Allerdings war sie noch nicht in der Menopause. Die schien die Lebensqualität von Frauen noch einmal stark zu verringern.
Jenny befand sich anscheinend mittendrin. Sie schwitzte jetzt stark. Ihre Haare – die am Anfang des Abends noch frisch geföhnt ausgesehen hatten – klebten mittlerweile an ihrer Stirn. Er war sich nicht sicher, ob ihre Wangen so rot angelaufen waren, weil die„hohen Studiengebühren“sie aufregten oder weil gerade eine Hitzewelle durch ihren Körper schoss. Sie sollte dringend Hormonpräparate nehmen, aber wahrscheinlich lehnte sie so etwas als kanzerogen ab. Sie war schon immer eine dieser Naturheilkundlerinnen gewesen, die noch bei einem Blinddarmdurchbruch Bachblüten schluckten.
„Und wie geht es dem Geschichtsfernsehen?“Jennys Stimme troff vor Ironie.
Er gab vor, nicht zu verstehen. „Geschichtsfernsehen?“
„Deine BBC-Dokumentationen, mit denen du uns seit Längerem beglückst.“
„Wir planen gerade eine neue Reihe.“
„So einen Scheiß hättest du früher nie gemacht, Hunt.“
Jenny war ein Geschöpf der Punkgeneration, und ihre Sprache erinnerte gelegentlich an einen Kampfsong der Sex Pistols. Sie schien sich jung zu fühlen, wenn sie Worte wie „Scheiße“oder „Fuck“einstreute, obwohl sie aus ihrem Mund uralt klangen.
Hunt lächelte. „Es wird ein Sechsteiler.“
„Für welche Altersgruppe soll das sein? Das kann doch kein Achtzehnjähriger ertragen, wenn so alte Säcke über Schlachtfelder wandern!“
Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, er war kein Militärhistoriker und nie über Schlachtfelder gewandelt. Seine Expertise lag in politischer Geschichte, er gehörte zu den Fossilien, die alle Moden überlebt hatten und sich mit Diktatoren und ihren Gedankengängen beschäftigten – nicht mit der Geschichte der Tränen oder der welterschütternden Frage, wie oft Beduinenfrauen im neunzehnten Jahrhundert menstruierten. Auch er war in den Siebzigerjahren sozialisiert worden, aber er hatte sich im Gegensatz zu Jenny inhaltlich und sprachlich definitiv weiterentwickelt. Jedes seiner acht Bücher war einem anderen Thema gewidmet. Er wiederholte sich nie und reiste permanent, um an spektakuläres Archivmaterial und neue Ideen heranzukommen. Ohne Herausforderungen konnte er nicht leben.