Das Leiden der Kinder auf Lesbos
Auf der Insel befindet sich das größte – und berüchtigtste – Aufnahmelager für Flüchtlinge. Die Zustände dort werden immer schlimmer.
LESBOS Im Morgengrauen ist Aziz an einem Strand der Insel Lesbos angekommen, mit 16 anderen in einem Schlauchboot. Jetzt wartet der 25-jährige Afghane im Aufnahmelager Moria vor einem Bürocontainer auf seine Registrierung. Aziz sieht sich um. Seine Miene verrät gemischte Gefühle. „Europe!“, sagt er lachend und zeigt auf die Landschaft jenseits des Camps. „Europe good!“Dann blickt Aziz auf die hohen Stahlgitterzäune und den Stacheldraht. Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich: „Prison no good.“Wie in einem Gefängnis fühlt sich Aziz.
Kinder spielen zwischen den dicht an dicht aufgestellten Wohncontainern. Überall liegt Abfall. Gleich neben dem Zaun, der das Camp umgibt, fließ ein Rinnsal aus Fäkalien zu Tal. Der Gestank ist für Neuankömmlinge kaum zu ertragen.„Aber du gewöhnst dich daran – wie an alles hier“, sagt Hakim. Er ist Mitte 30 und lebt nun schon vier Monate in Moria. Als Flüchtling aus Syrien hat er gute Aussichten auf politisches Asyl. Aber erst im Februar hat er seinen ersten Termin bei der Asylbehörde im Lager. Wie lange die Bearbeitung seines Antrags wohl dauern wird? Hakim zuckt die Schultern. „Manche warten hier schon über ein Jahr“, sagt der junge Mann. Er zeigt uns seine Behausung, einen Wohncontainer mit sechs Betten. Aber tatsächlich teilen sich zehn Personen die zwölf Quadratmeter. Vier schlafen auf dem Boden.
Von den fünf sogenannten Hotspots, den Erstaufnahmelagern auf den griechischen Inseln in der östlichen Ägäis, ist Moria auf Lesbos das größte – und das berüchtigtste. Das Camp ist für 3100 Personen ausgelegt, aber zeitweilig waren hier im September mehr als 8800 Migranten eingepfercht. Internationale Organisationen schlagen Alarm. Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International, war nach einem Besuch in Moria „sprachlos und schockiert“.
Die Zustände in dem Lager seien „das Abscheulichste und Beschämendste, was ich je gesehen habe“, so Naidoo. Georg Protopapas, der Leiter der SOS-Kinderdörfer in Griechenland, sagt: „Das Camp ist ein Verstoß gegen jegliche Menschenrechte. Kinder leben hier in ständiger Angst, ohne Schutz und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen“. Die Uno-Flüchtlingsagentur UNHCR nennt die Zustände in Moria „fürchterlich“. Die Inspekteure der Uno begegneten Schlangen und Ratten. „Abwässer und Fäkalien fließen offen durch das Lager“, heißt es in ihrem Bericht. Unter diese Bedingungen leben in Moria auch Schwangere und Säuglinge.
Neben dem überfüllten Camp gibt es in einem Olivenhain ein Zeltlager für etwa 3000 Menschen. Wenn es regnet, versinkt man im Schlamm. Moria ist schon schlimm. Aber das hier ist noch schlimmer. Manche Bewohner nennen es „die Hölle“. Nach Einbruch der Dunkelheit haben die Gangs das Sagen, erzählt ein junger Afghane: „Drogen, Prostitution, Vergewaltigungen, Diebstähle – hier gilt nur das Gesetz der Gewalt“. Fotografiert werden will er nicht, aus Angst vor Rache, wie er sagt.
Am meisten leiden die Kinder. Einen Kinderarzt gibt es nicht im Lager. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen eine kleine Kinderklinik aus Zelten, Containern und Transportern aufgebaut. Ein Generator sorgt für Strom. Zwei Kinderärzte und ein Team von Pflegern und Helfern arbeiten hier.
Huma sucht an diesem Vormit- tag Hilfe für ihre zweijährige Tochter. Die 33-jährige Mutter lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann seit zwei Monaten in Moria. „Vor allem das Jüngste ist ständig krank, seit wir hier sind“, sagt die Afghanin und versucht, das weinende Kind, das sie auf dem Arm hält, zu beruhigen. Huma hat in KabulWirtschaftswissenschaften studiert. Anfang 2017 floh die Familie vor den Taliban aus ihrer Heimat. Nach 18 Monaten in der Türkei kamen Huma und ihre Familie nach Lesbos. „Wir wollen nach Deutschland“, sagt sie, „dort lebt einer meiner Brüder.“
Fast alle Krankheiten haben mit den katastrophalen Bedingungen zu tun, unter denen die Kinder hier leben müssen. „Anfangs waren es vor allem Infekte und Hauterkrankungen, die wir behandeln mussten, aber je länger die Kinder im Lager zubringen, desto häufiger sind wir mit psychischen Problemen konfrontiert“, sagt eine Ärztin. „Die meisten Kinder sind schon durch den Krieg in ihrer Heimat und die Flucht schwer traumatisiert, und dann kommen die unmenschlichen Lebensbedingungen und die täglich erlebte Gewalt im Lager hinzu.“Das treibt manche Kinder in die Verzweiflung. „Wir sehen extreme Aggressivität, Selbstverletzungen und sogar Selbstmordversuche“, berichtet Carola. Einer ihrer Suizid-Patienten ist ein siebenjähriger Junge aus Syrien: „Erst hat er versucht, sich zu erhängen, dann ist er auf einen doppelstöckigen Wohncontai- ner geklettert und wollte sich hinunterstürzen.“
Die Frustration im Lager entlädt sich immer häufiger in sexueller Gewalt. Mindestens 21 Menschen sind allein seit Anfang Mai in Moria sexuell misshandelt worden. Die Hälfte seien unter 18, zwei sogar erst fünf Jahre alt gewesen, sagen die Ärzte, die die Opfer behandelt haben. Der stellvertretende Lagerleiter Dimitris Vafeas bestreitet das und spricht von Lügen: Bisher habe es erst einen einzigen Verdachtsfall einer Vergewaltigung gegeben, sagt Vafeas. Man habe die Lage im Griff.
Internationale Organisationen sehen das ganz anders. Erst unter dem massiven Druck der Öffentlichkeit hat Migrationsminister Dimitris Vitsas begonnen, Moria und die anderen Lager durch Umsiedlungen von Flüchtlingen aufs Festland zu entlasten. An der Überfüllung hat das wenig geändert. In den fünf Hotspots auf den ostägäischen Inseln, die eine Kapazität von 6438 Plätzen haben, leben fast 16.000 Menschen.
Für die Überfüllung trägt die Athener Regierung die Hauptver- antwortung. Die Türkei-EU-Flüchtlingsvereinbarung sieht vor, dass Griechenland jeden neu ankommenden Syrer in die Türkei zurückschickt. Im Gegenzug nimmt die EU dafür einen anderen Syrer aus der Türkei auf. Aber Griechenland weigert sich, das umzusetzen: Seit Inkrafttreten des Abkommens im April 2016 wurden nicht einmal 1800 syrische Flüchtlinge zurückgeschickt. Allein seit Anfang 2017 kamen aber fast 51.000 Migranten aus der Türkei auf die Inseln.
„Das größte Problem sind die schleppenden Asylverfahren“, sagt Christiana Kalogirou, die Präfektin der Region Nördliche Ägäis.„Die Zustände sind untragbar“, sagt die Politikerin. „Moria ist zweieinhalb Mal überbelegt, das Lager auf Samos sogar fast acht Mal.“Diese Camps seien für einen vorübergehenden Aufenthalt von wenigen Wochen konzipiert, tatsächlich lebten aber manche Menschen dort nun mehr als ein Jahr, kritisiert Kalogirou.
Kalogirou fordert eine Beschleunigung der Asylverfahren. Denn nach dem Flüchtlingsabkommen müssen die ankommenden Migranten so lange auf den Inseln bleiben, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Doch die Verfahren dauern endlos, weil die griechische Asylbehörde zu wenige Mitarbeiter hat. „ProWoche werden auf Lesbos etwa 100 Anträge entschieden“, sagt Präfektin Kalogirou. Allein in den vergangenen zwei Monaten wurden aber im Schnitt fast 400 Neuankömmlinge pro Woche auf der Insel gezählt. Die Warteliste wird also immer länger.Wer jetzt etwa auf Samos ankommt, muss auf die erste Anhörung bei der Asylbehörde bis September 2019 warten. Bis zu einer Entscheidung kann dann nochmals ein Jahr vergehen.
„Wir können nicht Familien unter diesen Bedingungen so lange festhalten“, sagt die Präfektin Kalogirou. Bewirkt haben ihre Appelle in Athen bisher wenig. Jetzt macht die resolute Politikerin Druck: In diesem Jahr hat ihre Behörde gegen das Migrationsministerium in Athen wegen Verstößen gegen Umweltschutz- und Hygienebestimmungen bereits Bußgelder von 150.000 Euro verhängt. Erst als Kalogirou mit der Schließung des Lagers drohte, gab Minister Vitsas den Bau einer neuen Abwasserleitung in Auftrag. Sie soll im nächsten Mai fertig sein. Aber vor allem die nächsten Monate machen der Präfektin große Sorge: „Der Winter kommt, mit Wind, Regen und Schnee – was soll dann aus den Menschen in den Zelten werden?“