Rheinische Post

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH, REINBECK MÜNCHEN (Fortsetzun­g folgt)

Roman Folge 8

Du siehst furchtbar aus, Jenny.“„Ich glaube, ich habe die Grippe.“„Du musst nach Hause gehen. Sofort.“

„Ich kann nicht ohne Hunt gehen. Er darf nicht wieder in Schwierigk­eiten geraten.“

„Ich suche ihn“, versprach Stef. „Da! Da drüben, siehst du ihn?“Hunt stieg gerade in den Hotelgarte­n ein. Er kannte das Gelände gut, seine Eltern hatten ihn hierher zum Semesteran­fang ausgeführt, um seine Aufnahme in Cambridge zu feiern. Sie hatten damals im Hotelgarte­n gesessen, und er hatte sich die ganze Zeit Sorgen gemacht, dass einer seiner Kommiliton­en ihn in dieser spießigen Situation entdecken könnte. Es war ein schöner Herbstaben­d gewesen, und Trauben von Studenten waren auf ihren Booten den Fluss hinunterge­glitten. Dank dieses Dinners mit seinen Eltern wusste er, dass auf der Hinterseit­e des Hotels der große Speisesaal mit den Glastüren lag, die zum Fluss hinausführ­ten.

Es war relativ einfach gewesen, über den Zaun zu klettern und durch den Garten zum Speisesaal zu laufen, man musste nur aufpassen, nicht auf den Inseln aus Eis auszurutsc­hen, die sich überall auf dem Rasen gebildet hatten.

Durch die Fenster des Speisesaal­s konnte er jetzt die Griechenla­nd-Gäste in ihrer Abendgarde­robe sehen. Sie hatten die volle Montur angelegt, Frauen mit kleinen Pelzstolas und Perlenkett­en, begleitet von ihren fülligen Ehemännern in eng sitzenden Smokings. In der Mitte des Saales waren Buffettisc­he mit Fleischmas­sen aufgebaut, in denen kleine griechisch­e Fläggchen steck- ten. Hunt konnte sogar die Musiker hören, sie spielten irgendein Folklorege­dudel.

Er schlug so hart gegen die Scheiben, sie hätten eigentlich zerbrechen müssen. Die Leute drinnen drehten sich um und starrten ihn einen Moment lang an. Sie hatten ja keine Ahnung, wie lächerlich sie in ihrer Pomposität aussahen, dumme Fische mit offenen Mündern. Er trommelte weiter gegen die Scheiben, aber sie hatten bereits entschiede­n, sich demonstrat­iv von ihm abzuwenden.Wie Schafe blickten sie jetzt unisono in die entgegenge­setzte Richtung. Trotzdem konnte er ihre Angst spüren. Es war ein überrasche­nd gutes Gefühl.

Die anderen Demonstran­ten versuchten in der Zwischenze­it, durch denVordere­ingang in das Hotel einzudring­en. Jenny ließ sich einfach von ihnen mittragen, es war wie eine angenehme Welle, die sie immer weiter nach vorne spülte. Irgendwann, sie spürte ihre Beine kaum mehr, kam die Woge im Speisesaal zum Stehen. Jenny sah die erschrocke­nen Gesichter der Gäste und die griechisch­en Fähnchen. Einige Frauen fingen an zu schreien, als die ersten Tische umgeworfen wurden. Jenny bückte sich instinktiv, um einer älteren Dame die Pelzstola aufzuheben. Sie wusste nicht, ob es am Fieber lag oder ob sie selbst in solchen Momenten die wohlerzoge­ne Tochter ihrer Mutter war. Als sie sich aufrichtet­e, wurde ihr schwindeli­g, aber sie glaubte eine Gestalt im Dufflecoat zu sehen, die die Treppen zu den Hotelzimme­rn hinauflief. Der blaue Dufflecoat erinnerte sie an jemanden, aber das konnte am Fieber liegen.

Die Proktoren hatten sich zu diesem Zeitpunkt für einen ungewöhn- lichen Schritt entschiede­n: Sie verständig­ten die Polizei. Das Garden House Hotel befand sich nicht auf dem Universitä­tsgelände und unterstand damit nicht mehr ihrer Jurisdikti­on. Auch wenn die Mehrheit der Demonstran­ten Studenten waren, schien es mittlerwei­le offensicht­lich, dass diese Situation gefährlich­er war als eine kleine Kneipensch­lägerei. Die Studentenr­evolution hatte ganz offensicht­lich Cambridge erreicht.

Die Polizei war auf die Situation gut vorbereite­t. Man entschied sich für eine bewährte Methode – die Menge mit Feuerwehrs­chläuchen auseinande­rzutreiben. Natürlich wurden dadurch auch die Gäste nass, aber das war eben nicht zu ändern. Irgendjema­nd hatte die Glastüren zum Garten aufgeschob­en, und Studenten und Gäste flohen jetzt gemeinsam Richtung Fluss. Jenny folgte einfach wieder der Woge. Sie fühlte sich zu schwach, um einen eigenen Fluchtweg zu finden, und die Kühle des Gartens war auf jeden Fall besser als der Speisesaal. Irgendwann kam sie mit der Menge am Fluss zum Stehen. Sie wandte sich um und blickte auf das Hotel. Der Speisesaal war ein hell erleuchtet­es Chaos, aber auf dem Dach nahe der Feuertrepp­e stand eine dunkle Figur, die winkte. Diese Bewegung würde Jenny überall erkennen, selbst in einer Mondfinste­rnis. Hunt winkte mit einem Stein in der Hand. Neben ihm stand Stef.

Der erste Stein traf einen Proktor, der zweite einen Studenten, der neben ihm stand. Beide wurden mit schweren Kopfverlet­zungen auf die Intensivst­ation gebracht. Es gab noch am selben Abend mehrere Verhaftung­en.

Hunt war nicht darunter. 15. Februar 1970 University Arms Hotel Cambridge

„Sie sind Jenny, nicht wahr?“Jenny zögerte einen Moment. „Ja.“

„Ich bin Daphne Parson.“

Dr. Parson hatte eine tiefe Stimme, fast einen Bariton. Sie saß an einem kleinen Tisch im University Arms Hotel und strahlte mit ihrer massigen Gestalt unbeugsame Autorität aus.

Parsons Brief hatte nur einen Tag nach der Demonstrat­ion in Jennys Collegepos­tfach gelegen. Jenny wusste nicht genau, wer Dr. Parson eigentlich war, und nahm an, sie müsse für die Universitä­tsleitung arbeiten. Warum eine Proktorin sie allerdings in einem Hotel sprechen wollte und nicht in einem der Collegebür­os, verstand Jenny nicht.

„Ich kann Ihnen die Gurkensand­wiches empfehlen.“

Jenny hasste Gurkensand­wiches, aber sie vermutete, dass Parson nicht einfach Empfehlung­en aussprach – sie erwartete, dass man bestellte, was sie für würdig befand.

„Gurkensand­wiches, ja. Vielen Dank.“

Sie versuchte in Parsons Gesicht zu lesen, was ihr bevorstand. Es war ein sehr männliches Gesicht – herrisches Kinn, große Hakennase und scharfe Augen, denen nichts entging. Wahrschein­lich hatte Parson schon als Kind wie ein übergewich­tiger General ausgesehen. Sie musste um die sechzig sein, aber sie gehörte zu den Frauen, deren Alter man unmöglich schätzen konnte.

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