Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Roman Folge 8
Du siehst furchtbar aus, Jenny.“„Ich glaube, ich habe die Grippe.“„Du musst nach Hause gehen. Sofort.“
„Ich kann nicht ohne Hunt gehen. Er darf nicht wieder in Schwierigkeiten geraten.“
„Ich suche ihn“, versprach Stef. „Da! Da drüben, siehst du ihn?“Hunt stieg gerade in den Hotelgarten ein. Er kannte das Gelände gut, seine Eltern hatten ihn hierher zum Semesteranfang ausgeführt, um seine Aufnahme in Cambridge zu feiern. Sie hatten damals im Hotelgarten gesessen, und er hatte sich die ganze Zeit Sorgen gemacht, dass einer seiner Kommilitonen ihn in dieser spießigen Situation entdecken könnte. Es war ein schöner Herbstabend gewesen, und Trauben von Studenten waren auf ihren Booten den Fluss hinuntergeglitten. Dank dieses Dinners mit seinen Eltern wusste er, dass auf der Hinterseite des Hotels der große Speisesaal mit den Glastüren lag, die zum Fluss hinausführten.
Es war relativ einfach gewesen, über den Zaun zu klettern und durch den Garten zum Speisesaal zu laufen, man musste nur aufpassen, nicht auf den Inseln aus Eis auszurutschen, die sich überall auf dem Rasen gebildet hatten.
Durch die Fenster des Speisesaals konnte er jetzt die Griechenland-Gäste in ihrer Abendgarderobe sehen. Sie hatten die volle Montur angelegt, Frauen mit kleinen Pelzstolas und Perlenketten, begleitet von ihren fülligen Ehemännern in eng sitzenden Smokings. In der Mitte des Saales waren Buffettische mit Fleischmassen aufgebaut, in denen kleine griechische Fläggchen steck- ten. Hunt konnte sogar die Musiker hören, sie spielten irgendein Folkloregedudel.
Er schlug so hart gegen die Scheiben, sie hätten eigentlich zerbrechen müssen. Die Leute drinnen drehten sich um und starrten ihn einen Moment lang an. Sie hatten ja keine Ahnung, wie lächerlich sie in ihrer Pomposität aussahen, dumme Fische mit offenen Mündern. Er trommelte weiter gegen die Scheiben, aber sie hatten bereits entschieden, sich demonstrativ von ihm abzuwenden.Wie Schafe blickten sie jetzt unisono in die entgegengesetzte Richtung. Trotzdem konnte er ihre Angst spüren. Es war ein überraschend gutes Gefühl.
Die anderen Demonstranten versuchten in der Zwischenzeit, durch denVordereingang in das Hotel einzudringen. Jenny ließ sich einfach von ihnen mittragen, es war wie eine angenehme Welle, die sie immer weiter nach vorne spülte. Irgendwann, sie spürte ihre Beine kaum mehr, kam die Woge im Speisesaal zum Stehen. Jenny sah die erschrockenen Gesichter der Gäste und die griechischen Fähnchen. Einige Frauen fingen an zu schreien, als die ersten Tische umgeworfen wurden. Jenny bückte sich instinktiv, um einer älteren Dame die Pelzstola aufzuheben. Sie wusste nicht, ob es am Fieber lag oder ob sie selbst in solchen Momenten die wohlerzogene Tochter ihrer Mutter war. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr schwindelig, aber sie glaubte eine Gestalt im Dufflecoat zu sehen, die die Treppen zu den Hotelzimmern hinauflief. Der blaue Dufflecoat erinnerte sie an jemanden, aber das konnte am Fieber liegen.
Die Proktoren hatten sich zu diesem Zeitpunkt für einen ungewöhn- lichen Schritt entschieden: Sie verständigten die Polizei. Das Garden House Hotel befand sich nicht auf dem Universitätsgelände und unterstand damit nicht mehr ihrer Jurisdiktion. Auch wenn die Mehrheit der Demonstranten Studenten waren, schien es mittlerweile offensichtlich, dass diese Situation gefährlicher war als eine kleine Kneipenschlägerei. Die Studentenrevolution hatte ganz offensichtlich Cambridge erreicht.
Die Polizei war auf die Situation gut vorbereitet. Man entschied sich für eine bewährte Methode – die Menge mit Feuerwehrschläuchen auseinanderzutreiben. Natürlich wurden dadurch auch die Gäste nass, aber das war eben nicht zu ändern. Irgendjemand hatte die Glastüren zum Garten aufgeschoben, und Studenten und Gäste flohen jetzt gemeinsam Richtung Fluss. Jenny folgte einfach wieder der Woge. Sie fühlte sich zu schwach, um einen eigenen Fluchtweg zu finden, und die Kühle des Gartens war auf jeden Fall besser als der Speisesaal. Irgendwann kam sie mit der Menge am Fluss zum Stehen. Sie wandte sich um und blickte auf das Hotel. Der Speisesaal war ein hell erleuchtetes Chaos, aber auf dem Dach nahe der Feuertreppe stand eine dunkle Figur, die winkte. Diese Bewegung würde Jenny überall erkennen, selbst in einer Mondfinsternis. Hunt winkte mit einem Stein in der Hand. Neben ihm stand Stef.
Der erste Stein traf einen Proktor, der zweite einen Studenten, der neben ihm stand. Beide wurden mit schweren Kopfverletzungen auf die Intensivstation gebracht. Es gab noch am selben Abend mehrere Verhaftungen.
Hunt war nicht darunter. 15. Februar 1970 University Arms Hotel Cambridge
„Sie sind Jenny, nicht wahr?“Jenny zögerte einen Moment. „Ja.“
„Ich bin Daphne Parson.“
Dr. Parson hatte eine tiefe Stimme, fast einen Bariton. Sie saß an einem kleinen Tisch im University Arms Hotel und strahlte mit ihrer massigen Gestalt unbeugsame Autorität aus.
Parsons Brief hatte nur einen Tag nach der Demonstration in Jennys Collegepostfach gelegen. Jenny wusste nicht genau, wer Dr. Parson eigentlich war, und nahm an, sie müsse für die Universitätsleitung arbeiten. Warum eine Proktorin sie allerdings in einem Hotel sprechen wollte und nicht in einem der Collegebüros, verstand Jenny nicht.
„Ich kann Ihnen die Gurkensandwiches empfehlen.“
Jenny hasste Gurkensandwiches, aber sie vermutete, dass Parson nicht einfach Empfehlungen aussprach – sie erwartete, dass man bestellte, was sie für würdig befand.
„Gurkensandwiches, ja. Vielen Dank.“
Sie versuchte in Parsons Gesicht zu lesen, was ihr bevorstand. Es war ein sehr männliches Gesicht – herrisches Kinn, große Hakennase und scharfe Augen, denen nichts entging. Wahrscheinlich hatte Parson schon als Kind wie ein übergewichtiger General ausgesehen. Sie musste um die sechzig sein, aber sie gehörte zu den Frauen, deren Alter man unmöglich schätzen konnte.