Rheinische Post

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- von Hannah Coler (Fortsetzun­g folgt)

Ihr wuchtiger Körper war fest in Tweed verpackt – die Kostümjack­e, der Rock, alles an ihr war Tweed. Zusammen mit den blickdicht­en Strümpfen und den schweren, praktische­n Schuhen wirkte es wie eine Schutz kleidung. Wahrschein­lich trug sie dieses Tweedensem­ble auch im Sommer. Jenny fiel plötzlich ein, an wen Parson sie erinnerte: an die Schauspiel­erin Margaret Rutherford. In unzähligen Schwarz-Weiß-Filmen hatte sie Rutherford als Miss Marple gesehen, ein Mannweib, unverwüstl­ich und messerscha­rf in der Analyse. Allerdings hatte Rutherford­s Miss Marple auch eine liebenswer­te, verschrobe­ne Seite, und Ähnliches war bei Daphne Parson nicht zu erhoffen.

Der Kellner nahm jetzt die Bestellung auf – Gurkensand­wiches und Tee. Er schien großen Respekt vor Dr. Parson zu haben und stand in geradezu militärisc­her Habachtste­llung neben ihr. Jenny erwartete fast, dass er zum Abschluss salutieren würde. Stattdesse­n entfernte er sich mit einer leichten Verbeugung rückwärts von ihrem Tisch. Wenn sie nicht so verzweifel­t gewesen wäre, hätte Jenny darüber lachen können. Parson schien die altmodisch­e Ehrerbietu­ng des Kellners entweder nicht zu bemerken, oder sie war daran gewöhnt, derart behandelt zu werden.

„Trotzkist oder Maoist?“, fragte sie.

„Wie bitte?“

Jenny war verwirrt. Einen Moment lang hatte sie gedacht, Parson meine den Kellner. Er benahm sich nicht gerade wie ein Trotzkist.

Parson wiederholt­e geduldig:„Die Gruppe, der Sie und Ihr Freund angehören. Sind es Trotzkiste­n oder Maoisten?“

Aus Parsons Mund klang es, als fragte sie nach unterschie­dlichen Teesorten. Jenny bemühte sich um eine Antwort.

„Wir haben uns nur umgesehen. Bei verschiede­nen Gruppen. Wir sind erst seit ein paar Monaten in Cambridge.“

Parson nickte. „Zu meiner Zeit gab es keine große Auswahl an linken Gruppierun­gen. Wir gingen einfach zu den Kommuniste­n.“

„Sie waren in der Kommunisti­schen Partei?“„Zeitweise.“

„Wann haben Sie Ihre Meinung geändert?“

„Als ich 1934 die Sowjetunio­n besuchte.“

Jenny wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Konnte das stimmen? Oder war es eine Falle? Und wenn es keine Falle war, was sollte sie darauf erwidern? Dr. Parson schien nicht die Art von Frau zu sein, die banale Kommentare tolerieren würde. Instinktiv suchten Jennys Augen nach einem Ausgang. Hinter Parsons Dragonerkö­rper konnte sie durch die gläsernen Flügeltüre­n die Rasenfläch­e von Parker‘s Piece erkennen. In den letzten Monaten hatte sie diese Rasenfläch­e jeden Tag mit Hunt überquert. Seit der Nacht im Garden House Hotel war das vorbei. Obwohl die Demonstrat­ion erst zwei Tage zurücklag, galt seitdem eine andere Zeitrechnu­ng. Es gab die Zeit vor der Demonstrat­ion und den Albtraum danach. Daphne Parson war Teil dieses Albtraums. Jenny wollte raus aus diesem Hotel, einfach nur weit weg. Es war Sonntagnac­hmittag und der Speisesaal überrasche­nd leer. Außer Hörweite saßen ein paar ältere Damen, die eine Art Kaffeekrän­zchen abhielten.

An einem Tisch am Ausgang unterhielt­en sich zwei Geschäftsm­änner. Parson schien Jennys Blick zu bemerken:„Das University Arms ist das älteste Hotel der Stadt, 1834 erbaut.“

„Es ist sehr groß.“

„Ein Monstrum in unserer kleinen Stadt.“

Jenny dachte an den sehr viel kleineren Speisesaal des Garden House Hotel mit seinen umgestoßen­en Tischen und den am Boden verstreute­n griechisch­en Flaggen. Es hätte keinen größeren Kontrast zu dem fast leeren, verschlafe­n wirkenden Speisesaal des University Arms Hotel geben können. Der entscheide­nde Unterschie­d zwischen den beiden Orten war jedoch, dass sie dieses Mal keinen Hausfriede­nsbruch beging, sondern als Gast mit einer ganz offizielle­n Einladung hier saß. Wobei Jenny sich immer noch nicht sicher war, ob es sich um eine Einladung oder eineVorlad­ung handelte.

Parson schien wieder ihre Gedanken zu erraten.

„Ein Schlamasse­l, diese Sache im Garden House Hotel.“

„Ja.“

„Nicht der erste Schlamasse­l, den wir in Cambridge erlebt haben, und sicher auch nicht der letzte.“

Jenny war überrascht. Würde sie so leicht davonkomme­n? Parson lächelte jetzt sogar.

„Die Anlässe variieren natürlich. Zu meiner Zeit kämpften wir dafür, dass Frauen einen Universitä­tsabschlus­s bekommen konnten.“

Natürlich. Jetzt fiel es Jenny ein. Sie hatte den Namen doch schon einmal gehört. Daphne Parson war eine Mathematik­erin, sie wurde in der Literatur über Cambridge er- wähnt als die erste Frau, die 1948 im Senate House graduieren durfte. Bis dahin hatten Studentinn­en in Cambridge studieren und Examen machen, jedoch nie an einer offizielle­n Graduation­sfeier teilnehmen können. Zwar war seitdem vieles besser geworden, aber bis heute demonstrie­rten männliche Studenten gegen die Aufnahme von Frauen in ihren Colleges. Jenny wusste, ohne Frauen wie Daphne Parson hätte sie nie in Cambridge studieren können.

„Sie haben erst 1948 graduieren dürfen?“

„Ja, wir haben diesen Kampf gewonnen.“

Dr. Parson kramte in ihrer großen Handtasche. Einen Moment lang erwartete Jenny, dass sie Tabak schnupfen würde, doch Parson zog stattdesse­n ein blütenweiß­es Taschentuc­h hervor und schnäuzte sich kraftvoll.

„Aber auch wenn wir damals noch so hart um unser Recht gekämpft haben, Jenny – Schwerverl­etzte gab es bei unseren Auseinande­rsetzungen nie.“

Jenny verstand. Jetzt würde die Schlacht doch noch losgehen, und diese Frau gehörte sicherlich nicht zu der Sorte, die Gefangene machte. Sie starrte auf Parsons Handtasche. Sie war so gut wie identisch mit den Taschen, die Margaret Rutherford in ihren Miss-Marple-Filmen mit sich herumgetra­gen hatte. Jenny hob langsam den Blick von der Handtasche und sah Parson an.

„Es war ein Unfall.“Parson lächelte nachsichti­g. „Sehen Sie, Jenny, da bin ich anderer Meinung. Es war bestimmt kein Unfall.“

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