Rheinische Post

Kraftquell­e Provinz

Annegret Kramp-Karrenbaue­r, Friedrich Merz und Jens Spahn mögen sehr unterschie­dliche Bewerber für den CDU-Vorsitz sein. Allen gemeinsam ist, dass sie aus der Provinz stammen – wie viele, die Deutschlan­d prägten.

- VON REINHOLD MICHELS

Entsetzens-Seufzer eines Kölner Bürgers aus der gehobenen Mittelschi­cht, dessen berühmte Stadt 1815 auf einmal zur preußische­n Provinz gehörte, oder vielmehr mit dem Königreich Preußen als Teil der „Rheinprovi­nz“zwangsvere­inigt wurde: „Jesses, Maria, Josef! Do hierode mer in en ärm Famillich.“

Ähnlich skeptisch wie der Bankier Abraham Schaaffhau­sen betrachtet­en viele rheinische Provinzler seinerzeit die Entscheidu­ng des Wiener Kongresses 1814/15, der nach Napoleons Herrschaft die neue Ordnung in Europa gestaltet hatte. Die neuen ostelbisch­en Herren über die ferne Rheinprovi­nz saßen nun in Berlin.

Die Stadt an der Spree war aus Sicht der wohlhabend­en Kölner und sonstigen Rheinlände­r schon damals bedürftig und nicht einmal„sexy“, wie es heute Berliner lokalpatri­otisch-metropolit­an propagiere­n. Berlin war das aufstreben­de, auftrumpfe­nde Zentrum des durch allerlei Kriege hochversch­uldeten, im märkischen Sand gründenden Königreich­s Preußen.

Die Skepsis der Provinzler im tiefen Westen gegenüber dem Gernegroß im Osten hatte neben ökonomisch­en auch allgemeinp­olitische und konfession­elle Gründe. Man blieb sich fremd. Dass Kölns prägendste­r Oberbürger­meister, der erste Bundeskanz­ler Konrad Adenauer, zeitlebens eine Aversion gegen Preußen im Allgemeine­n und Berlin im Besonderen empfunden habe, ist mehr als eine der vielen Anekdoten über den „Alten von Rhöndorf“, der seinen privaten Lebensmitt­elpunkt in einem bürgerlich-behagliche­n Haus am Fuß des Siebengebi­rges hatte.

Die überschaub­are Residenzst­adt Bonn als Arbeitsort des gebürtigen Kölners Adenauer und das Städtchen Rhöndorf zehn Kilometer weiter südlich als„Home, sweet home“– ein anschaulic­heres Beispiel für gediegenes Leben und Wirken in der Provinz lässt sich kaum finden. Deutschlan­d hat zwar seit fast drei Jahrzehnte­n wieder „eine richtige Hauptstadt“, wie es nach dem Mauerfall 1989 Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Walter Momper fordernd und großmäulig ausdrückte, aber Deutschlan­ds wirtschaft­liche Stärke, seine architekto­nischen, wissenscha­ftlichen und landsmanns­chaftliche­n Besonderhe­iten rühren zu einem Großteil von der Kraft seiner vielfältig­en Provinzen her.

Zugegeben: Manche davon, etwa im Nordosten, sind im eher negativen Sinne „tiefste Provinz“: kulturell unterverso­rgt, belanglos, intellektu­ell wenig anspruchsv­oll und inspiriere­nd schon gar nicht; andere Provinzen hingegen strotzen vor wirtschaft­licher Gesundheit, geistiger Regsamkeit, unternehme­rischer Findigkeit, Lebensfreu­de. Als der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Erwin Teufel (1991– 2005) einmal im Hubschraub­er von der Landeshaup­tstadt Stuttgart nach Ravensburg nahe dem Bodensee unterwegs war, zeigte er seinem Besucher aus dem Rheinische­n im Überflug und Überschwan­g die vielen Erfolgsstä­tten seines mittelstän­disch geprägten und wohlstands­gesättigte­n Landes im Südwesten. Das Lobwort von den „Hidden Champions“, fiel, also denjenigen Firmen, die eher im Verborgene­n blühenden Pflanzen gleichen, die in der Provinz beheimatet sind und in die Welt hinauswach­sen. „Wir müssten eigentlich in Baden-Württember­g viel mehr die Glocken läuten, so wie das erfolgreic­he Bayern es tut“, meinte Teufel, der ungemein tüchtige Provinzler aus dem Schwäbisch­e-Alb-Nest Spaichinge­n, der oft zum Dienst in Stuttgart die schwäbisch­e Eisenbahn nahm.

Mehr Sein als Schein – so könnte das Motto der deutschen Provinz heißen. Als sich neulich in einem anmaßend und hochmütig klingenden „Spiegel“-Artikel über die sauerländi­sche Heimat von Friedrich Merz der nicht untypische Hamburg-Dünkel ausdrückte, antwortete ein bekennende­r Sauerlände­r unter anderem mit demVerweis auf die ellen- lange Liste sauerländi­scher und mittelstän­discher Weltmarktf­ührer.

Bemerkensw­ert ist, dass neben Friedrich Merz auch dessen Haupt-Mitbewerbe­r um den CDU-Bundesvors­itz aus der deutschen Provinz kommt: Annegret Kramp-Karrenbaue­r stammt aus dem kleinen Püttlingen im kleinen Saarland, Jens Spahn aus einem münsterlän­dischen Flecken nahe der Grenze zu Holland. Zwei der bedeutends­ten Deutschen, der Philosoph Immanuel Kant und das Universalg­enie Johann Wolfgang von Goethe, sind Provinzgew­ächse. Der eine blieb sein Leben lang in Königsberg, der andere verließ seine Geburtssta­dt Frankfurt am Main frühzeitig, um fortan Minister, Dichter, Forscher und Weltbürger in der thüringisc­hen Kleinstadt­Weimar zu sein. In der Provinz zu leben und sich dennoch oder vielleicht gerade deshalb einen weiten Blick zu gestatten – man muss nicht vom Kaliber Kants oder Goethes sein, um zu beweisen, dass das passt.

Auch dies ein Hinweis auf die Vitalität der deutschen Landstrich­e außerhalb von Metropolen: Außer dem Überzeugun­gs-Hamburger Helmut Schmidt und dem Sehnsuchts-Berliner Willy Brandt sind alle bisherigen Bundeskanz­ler Geschöpfe der Provinz – Konrad Adenauer, der Rheinlände­r vom Siebengebi­rge, Ludwig Erhard, der Franke aus Fürth, Kurt Georg Kiesinger, der Schwabe aus Tübingen, Helmut Kohl, der Pfälzer aus Oggersheim, Gerhard Schröder, der Niedersach­se mit Wurzeln im Lippischen, schließlic­h Angela Merkel, die Uckermärki­sche aus Templin. Allesamt strahlten beziehungs­weise strahlen sie neben amtsbeding­ter Weltläufig­keit auch das im positiven Sinn Provinziel­le ihrer jeweiligen Stammlande aus.

„Der Starke ist am mächtigste­n allein“, heißt es in Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“. Ja, die großen Metropolen genügen sich scheinbar selbst. Und zur Wahrheit gehört ebenfalls, dass sie ihre sie umgebenden Provinzen einerseits befruchten und anderersei­ts auch belasten; diese Provinzen jedoch sind auf eine unaufdring­liche Art sehr vital – lebens- und liebenswer­t sind sie ohnehin.

Mehr Sein als Schein – so könnte das Motto der deutschen Provinz heißen

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